Beobachter erwarten, daß die Europawahlen am Sonntag vor allem durch eine hohe Enthaltungsrate in die Annalen eingehen werden. Nicht zu Unrecht greifen sie ausgerechnet dieses Kriterium heraus. Tatsächlich wird die Wahlbeteiligung die Wahrheit der Lage besser ausdrücken als die Ergebnisse der einzelnen Parteien selber. Eine hohe Enthaltung zeigt die Gleichgültigkeit der Wähler. Diese wiederum zeugt von Enttäuschung. Jahrelang stellte Europa eine große Hoffnung dar. Seit der Verabschiedung des Maastrichter Vertrages 1992 ruft der europäische Einigungsprozeß eher Beunruhigung hervor. Die Europäische Union hat sich auf eine Entwicklung eingelassen, die sie dauerhaft zu Ohnmacht und Paralyse verdammt. Schuld daran ist nicht nur die zähflüssige, undurchsichtige Brüsseler Bürokratie, sondern auch das Fehlen einer gemeinsamen Vision unter den Mitgliedsstaaten, die sich ausschließlich um wirtschaftlichen Wettbewerb und finanzpolitische Orthodoxie scheren. Die politische Einigung Europas ist derzeit völlig blockiert. Die Gleichgültigkeit war bereits offensichtlich, als die Europäische Union am 1. Mai ihre zehn neuen Mitglieder aufnahm. Welch ein Kontrast zum Berliner Mauerfall! Sobald die Mauer gefallen war, brach allgemeiner Jubel aus: „Wir sind ein Volk!“ Nicht ohne Grund sprach man damals von „Wiedervereinigung“ – genausogut hätte man auch von Erweiterung sprechen können, denn die Wiedervereinigung wurde vor allem durch das Aufgehen der DDR in der Bundesrepublik abgewickelt. Um den EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zu beschreiben, beschränkt man sich dagegen auf „Erweiterung“ – obwohl es sich in gewisser Hinsicht ebenfalls um eine Wiedervereinigung handelte. Diese Begriffe sind nicht zufällig gewählt. Die Gleichgültigkeit rührt aber auch von den europäischen Institutionen selbst her, die weiterhin an einem unglaublichen Demokratiedefizit leiden und deren „Durchschaubarkeit“ gegen null geht, da die große Mehrheit der Europäer nicht in der Lage ist, zu erklären oder zu verstehen, wie sie wirklich funktionieren. Dies läßt sich an zwei sehr unterschiedlichen Beispielen festmachen: der Debatte um den EU-Beitritt der Türkei und der Zulassung genmanipulierter Organismen (GMO). Der berühmte Historiker Jacques Le Goff sagte kürzlich, die Türkei müsse außerhalb der EU bleiben, nicht weil sie islamisch sei (Bosnien und Albanien gehörten unbestreitbar zu Europa), sondern weil sie nicht europäisch sei. In einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt erklärte er am Vorabend der EU-Erweiterung: „Der Platz der Türkei ist nicht in Europa. Ihre Aufnahme wäre eine schwere Gefahr. Dabei lasse ich mich nicht von religiösen Gründen leiten. Die Bosnier und Albaner sind Moslems und werden trotzdem eines Tages zur Union gehören. Ausschlaggebend sind für mich geographische Gründe. Der Ural ist keine Grenze, der Bosporus aber sehr wohl. Die Türkei gehört zum Orient.“ Die bloße Tatsache, daß die Kandidatur der Türkei (die Silvio Berlusconi, Tony Blair und die USA vehement unterstützen) diskutiert wird, zeigt, daß schon über die Grenzen Europas Uneinigkeit besteht. Diese Uneinigkeit aber verweist auf eine Uneinigkeit über die Ziele Europas. Die Türkei könnte sich sehr wohl in eine riesige Freihandelszone integrieren, wäre aber nicht fähig, an einem Zivilisationsprojekt teilzunehmen. Die Entscheidung der Europäischen Kommission vom 19. Mai, den Import gewisser genetisch veränderter Maissorten zum menschlichen Verzehr zuzulassen, ist ebenfalls bezeichnend. Obwohl die europäischen Verbraucher genmanipulierte Organismen mehrheitlich ablehnen, überließen die europäischen Minister aus Unfähigkeit, in dieser Frage ein Einverständnis zu erzielen, die Entscheidung lieber der Kommission. Dieser ging es offensichtlich vor allem um die Klagen, die GMO-produzierende Staaten wegen „Handelshemmnissen“ für ihre Produkte auf dem europäischen Markt anstrengen könnten. Nichtgewählten Technokraten, denen die Interessen des agrobusiness über die der Verbraucher und die Gesetze des Handels über den Willen der Völker sowie über das Vorsichtsprinzip gehen, wurde hier völlig freie Hand gelassen. Wie soll man danach noch begründen, daß die europäische Einigung vor der Globalisierung schützt? Die Bürger hatten in dieser Sache nichts zu sagen. Tatsächlich sind sie zu keinem einzigen der Kernprobleme per Volksabstimmung befragt worden: weder zum Verfassungsentwurf noch zu den GMO noch zur Kandidatur der Türkei noch zur Einwanderungspolitik. Die europäischen Völker spielen bei der Konstruktion Europas keine Rolle. Darin liegt der Hauptgrund für ihre Gleichgültigkeit. Statt sich der Zukunft zuzuwenden, gedenkt Europa lieber der Vergangenheit und behält seine Kritik den (zum Glück) seit über einem halben Jahrhundert vom Erdboden verschwundenen totalitären Regimen vor. Gerade feierte man in der Normandie die „Befreiung Europas“ durch amerikanische Truppen – und hatte die Unanständigkeit, zu diesen Feierlichkeiten den amerikanischen Präsidenten George W. Bush einzuladen, dessen Truppen derzeit im Irak keine Befreiung, sondern eine Besatzung betreiben. Damit wurden 10.000 britische, amerikanische und kanadische Soldaten geehrt, die bei der Landung vom Juni 1944 fielen … und die 50.000 französischen Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder, vergessen, die bei anglo-amerikanischen Bombenangriffen auf die Städte der Normandie umkamen. Die amerikanische Intervention im Irak, deren katastrophale Folgen inzwischen jedem offensichtlich sind, hat sich als Katalysator von Schwierigkeiten erwiesen, die sehr viel tiefer gehen als bloße außenpolitische Abweichungen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hat sie die „atlantische“ Grundlage der abendländischen Einheit in Frage gestellt. Am bedeutendsten ist jedoch, daß dies nicht die Staaten und Regierungen bewirkten, die sich wie üblich nicht einigen konnten, sondern die Bürger selber. Zwischen Januar und April 2003 demonstrierten in Europa mehr als 20 Millionen Menschen gegen den Irak-Krieg. Für den französischen Politologen Dominique Reynié „bedeutete der größte weltweite Protest, den die Geschichte je erlebt hat, zugleich die Geburtsstunde einer authentischen europäischen Öffentlichkeit“. Seit dieser „Geburtsstunde“ hat Europa entdeckt, daß es sich von den USA unterscheidet. Dies ist der Anfang der Bewußtwerdung seiner Identität. In seinem Aufsatz „Falls Europa erwacht“, schreibt Peter Sloterdijk, die Europäer müßten ihre Rolle im Welttheater neu lernen. Davon sind wir noch weit entfernt.