„Noch eine Chance für die Liberalen“, nannte FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach 1971 seine vielbeachtete Streitschrift, in der der Vordenker die liberalen Positionen in einer Zeit verteidigte, da die Partei in schweres politisches Fahrwasser geraten war.
Zwei Jahre zuvor hatte die FDP für einen Paukenschlag gesorgt, war eine Koalition mit der SPD Willy Brandts eingegangen und hatte somit die weiterhin stärkste Fraktion CDU/CSU, ihren langjährigen Bündnispartner, erstmals auf die harten Oppositionsbänke verwiesen. Die FDP, damals noch die „dritte Kraft“ im Bundestag, steckte in einer Existenzkrise, war bei der Bundestagswahl 1969 auf gerade mal 5,8 Prozent gekommen.
44 Jahre später, 2013, geschah das bis dahin Undenkbare: die FDP flog (erstmals) aus dem Bundestag. Die Partei stand vor einem Scherbenhaufen, und nicht wenige politische Beobachter läuteten das Sterbeglöckchen für die Liberalen. Zu früh, wie sich herausstellen sollte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die FDP bei der Wahl am 24. September die Fünfprozenthürde überspringen, möglicherweise sogar (erneut) neben Kanzlerin Angela Merkel am Kabinettstisch sitzen.
Beeindruckende Energie
Zu verdanken hat die Partei ihre Wiederauferstehung Christian Lindner, der kurz nach dem historischen Debakel zum Parteichef gekürt wurde. Schon bald stellte er klar, daß er bei einem Scheitern 2017 aus der Politik ausscheiden würde. Der 38jährige gilt als politisches Naturtalent, entdeckt von seinem früheren Förderer Jürgen Möllemann. Das war 2000, als Lindner mit 21 Jahren in den nordrhein-westfälischen Landtag gewählt worden war, Möllemann ihn mit Generationenpolitik betraute und fortan „Bambi“ nannte.
Seitdem sind 17 Jahre vergangen, Lindner ist längst zu einem respektierten und geachteten Bundespolitiker geworden – parteiübergreifend. Mit beeindruckender Energie hat er seine Partei wiederaufgerichtet, ihr ab 2014 zunächst eine Programmdiskussion verordnet und sich gegenüber den Wählern reumütig gezeigt.
Die selbsternannte „Steuersenkungspartei“ habe in der schwarz-gelben Koalition strategische Fehler begangen, sich von Merkel und ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble bei den Koalitionsverhandlungen 2009 über den Tisch ziehen lassen, räumte man zerknirscht ein.
Brüderle und Rösler verschwanden in der politischen Versenkung
Daß Spitzenkandidat Rainer Brüderle die Union kurz vor der Wahl 2013 um Zweitstimmen anbettelte, die „neue FDP“ ist noch heute peinlich berührt. „Neue FDP“? Jahrzehnte galt die FDP, zuletzt personalisiert durch ihre vormaligen Vorsitzenden Guido Westerwelle und Wolfgang Gerhardt, als Wirtschaft- und Honoratiorenpartei.
Damit hat Lindner Schluß gemacht. Brüderle und Ex-Parteichef Philipp Rösler verschwanden rasch in der politischen Versenkung. Für den neuen Kurs standen 2015 Katja Suding und Lenke Steiner, die nach vernichtenden Niederlagen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen die „Eisbrecherwahlen“ in Hamburg und Bremen gewannen.
Die telegenen Spitzenkandidatinnen hatten im Wahlkampf weniger durch Sachaussagen geglänzt, der FDP aber durch ihre unverstellte, sympathische Art ein neues Image im Sinne Lindners verpaßt. Ihm ging es nicht nur um Inhalte wie digitale Agenda, Soziale Marktwirtschaft oder individuelle Freiheitsrechte, sondern stärker wohl um ein Lebensgefühl, das die neue FDP den Wählern vermitteln wollte.
Platz drei als Zielmarke
Das Vorhaben mag glücken, da sich in der Parteiführung auch Vertreter der „alten FDP“ finden, etwa der versierte Finanzpolitiker Volker Wissing in Rheinland-Pfalz oder der kämpferische Hans-Ulrich Rülke in Baden-Württemberg. Wissing schaffte es 2016 aus der außerparlamentarischen Opposition als Wirtschaftsminister in eine Ampelkoalition, Rülke lehnte auch auf Druck Lindners eine Ampel dagegen ab.
So konnte der Parteichef die FDP als unabhängige, zuvörderst an Sachfragen orientierte Partei positionieren. Das ewige Anhängsel der Union, unterbrochen nur durch die sozialliberale Ära – damit sollte Schluß sein.
Daß es für die FDP in Lindners Heimat Nordrhein-Westfalen überraschend zu einem schwarz-gelben Bündnis reichte und sein gewiefter Stellvertreter Wolfgang Kubicki in Schleswig-Holstein eine Jamaika-Koalition zusammenzimmerte, hat ihre Chancen auf Bundesebene sicher verbessert. Platz drei hat Lindner als Zielmarke für die Wahl vorgegeben, vor AfD, Bündnis 90/Die Grünen und der Linken.
Dafür blinkt Lindner auch schon mal rechts, etwa in der Flüchtlingspolitik, um der AfD den Rang als Protestpartei streitig zu machen. Man darf gespannt sein, welche Töne der Parteichef eine Woche vor der Wahl auf dem Sonderparteitag in Berlin anschlagen wird.
Kesseltreiben gegen Schäffler
Doch die erfreulichen Aussichten verdecken derzeit personelle Probleme, die die wiedererstarkte Partei nach einem Einzug in den Bundestag erwarten. Zwar werden der neuen Fraktion auch Abgeordnete mit parlamentarischer Erfahrung angehören. Doch nur Michael Link verfügt als früherer Staatsminister im Auswärtigen Amt über eine knapp zweijährige Regierungserfahrung im Bund. Lindner hat die FDP zusammen mit seinem Vertrauten, Bundesgeschäftsführer Marco Buschmann, personell umgebaut, auf die Kandidatenauswahl in den Ländern starken Einfluß genommen.
Ein Lied davon kann Frank Schäffler singen, der renommierte Kritiker der Euro-Rettungsschirme und Initiator des parteiinternen Mitgliederentscheids darüber. Im Frühjahr setzte Lindner vor der Kandidatenkür in Neuß alle Hebel in Bewegung, um seinem Widersacher einen aussichtsreichen Listenplatz zu verwehren. Vergebens.
Lindners langjähriger politischer Weggefährte im Düsseldorfer Landtag, Fraktionschef Gerhard Papke, schreibt in seinem gerade erschienenen Buch „Noch eine Chance für die FDP“, gegen Schäffler sei „ein regelrechtes Kesseltreiben“ gelaufen, das der Rechtsliberale „beschämend“ nennt.
Dominanz aus NRW
Papke, der sich aus der Politik zurückgezogen hat, ist der einzige öffentliche Kritiker Lindners. In Baden-Württemberg, dort wo die FDP gern vom liberalen Stammland spricht, gibt es ein kaum unterdrücktes Unbehagen über die parteiinterne Dominanz des NRW-Landesverbandes. Baden-Württembergs Spitzenkandidat Michael Theurer hat sogar einen renommierten Politikberater engagiert, um in Berlin leichter Fuß zu fassen.
Nicht nur im Parlament, sondern auch in der VIP-Lounge des Nobelhotels Adlon, wie auf dem vergangenen Bundespresseball zu beobachten war. Lindner, Buschmann, Alexander Graf Lambsdorff, der Lindner-Getreue Johannes Vogel sowie der derzeit bei einer Berliner Unternehmensberatung „geparkte“ einstige Fraktionsgeschäftsführer Otto Fricke stammen allesamt aus Nordrhein-Westfalen und können sich Hoffnung auf ein Bundestagsmandat machen. Eine sichere Fahrkarte nach Berlin haben auch Generalsekretärin Nicola Beer sowie Kubicki, Lindners eigenwilliger Mitstreiter beim FDP-Neuaufbau.
Nächster Karriereschritt Lifestyle-Modell?
Der langjährige Rechtsanwalt gilt als ministrabel, ebenso wie Lambsdorff, der sich im Europäischen Parlament der Außenpolitik zugewandt hat. Nicht zu vergessen FDP-Urgestein Hermann Otto Solms, der bereits 33 Jahre Bundestag auf dem Buckel hat und 2009 Finanzminister werden wollte. Der distinguierte, feinsinnige Adlige verzichtet in der Öffentlichkeit auf seinen Prinzentitel, ist gewissermaßen als Repräsentant der alten FDP der Gegenentwurf zu Lindner, der ihn 2013 zum Weitermachen überredet hatte.
Und Lindner selbst? Als Bundesminister mag man ihn sich kaum vorstellen, da er auf den Wahlplakaten bewußt unangepaßt und unkonventionell daherkommt. Nächster Karriereschritt Lifestyle-Modell?, wird bereits gespöttelt. Fünf-Tage-Bart, ohne Krawatte, lässig, dynamisch, flotte Sprüche inklusive: „Manchmal muß ein ganzes Land vom 10er springen“. Lindner, so heißt es bei aller Anerkennung mitunter in Parteikreisen, müsse auf dem Teppich bleiben.
JF 36/17