Ein paar tausend Soldaten als Teil einer internationalen Friedenstruppe in der Ukraine zu stationieren, dazu wäre Großbritannien bereit, hat Premierminister Keir Starmer als einer der ersten westlichen Regierungschefs erklärt. London sprach mit einem halben Dutzend anderer Länder, allen voran Frankreich, aber auch Kanada, der Türkei und Australien, über eine „Koalition der Willigen“. Bis zu 30.000 Mann – so heißt es in London – könnte eine solche Friedenstruppe stark werden, um neue Angriffe Rußlands zu verhindern. Die genauen Bedingungen und Aufgaben sind aber noch komplett unklar. Einige Länder sollten nur Waffen und Logistik beitragen.
Aber Starmers Zusagen könnten zu Hause die britischen Streitkräfte ans Limit bringen. Denn es ist kein Geheimnis, daß sie seit Jahren auf dem Zahnfleisch geht. Die britischen Streitkräfte seien „ausgehöhlt“ und jahrelang kaputtgespart, klagte Verteidigungsminister John Healey nach Amtsantritt der Labour-Regierung im Juli wiederholt. Immerhin hat das Land konsistent die Nato-Zielmarke von zwei Prozent Verteidigungsausgaben relativ zur Wirtschaftsleistung erreicht oder zuletzt leicht übertroffen. Im aktuellen Haushaltsjahr hat das Land 57 Milliarden Pfund (68 Milliarden Euro) im Verteidigungsbudget geplant. Erst im vorigen Jahr kam Deutschland an dieses Ausgabenvolumen heran. Großbritannien liegt hinter den Vereinigten Staaten auf Platz zwei im Nato-Ranking – allerdings geben die USA rund zehnmal soviel aus für ihr Militär.
Hohe Ausgaben, wenig Ausrüstung
Die Defizite der Briten sind unübersehbar. Schon bei 5.000 Mann für eine Friedenstruppe in der Ukraine könnte das Land seine Nato-Verpflichtungen nur noch eingeschränkt erfüllen, sagt Militärexperte Matthew Savill vom Royal United Services Institute. Auch die von Starmer geplante Steigerung der Verteidigungsausgaben auf 2,5 Prozent reicht nach Ansicht vieler Fachleute kaum, um die Truppe nachhaltig zu stärken.
Über Jahre sind die britischen Streitkräfte geschrumpft. Zuletzt dienen in Army, Royal Navy und Royal Air Force – den UK Regular Forces – zusammen nur noch 136.000 Soldaten. Zum Vergleich: Die Truppenstärke der deutschen Bundeswehr beträgt etwas über 180.000. Besonders geschrumpft ist das Heer des Vereinigten Königreichs. Mit nur noch knapp 74.000 Soldaten ist es so klein wie nie seit der Zeit Napoleons vor mehr als zweihundert Jahren. Und es gibt große Ausrüstungsmängel und Rekrutierungsprobleme. Seit Jahren schaffe man es nicht, die gesteckten Ziele zu erreichen, erklärte Healey vor dem Verteidigungsausschuß des Parlaments. In einem Bericht des Unterhauses heißt es, das Land könne seine gemeldete Nato-Verpflichtung, eine ganze Division in einen Kriegseinsatz zu bringen, womöglich erst Mitte des nächsten Jahrzehnts erfüllen.
Und der Ausrüstungsstand ist mau. Die Army besitzt nur noch wenige Panzer. Bis 2030 soll die Panzertruppe zwar um modernste Kampfpanzer vom Typ Challenger 3 ergänzt werden, aber mehr als 148 Stück konnte man nicht bestellen. Besonders schwach sind die Fähigkeiten bei der Luftverlegung. Ohne die Hilfe der US Army sind die europäischen Nato-Staaten hier sehr eingeschränkt. Im Dienst der britischen Luftwaffe stehen aktuell 137 Kampfjets des Typs Typhoon (Eurofighter), die ab Mitte des nächsten Jahrzehnts durch das neue Luftkampfsystem GCAP mit einem Superkampfjet und Drohnenschwärmen ersetzt werden sollen. Aber das ist alles noch Zukunftsmusik.
Großbritannien besitzt weniger Fregatten als Deutschland
Immerhin besitzt die Royal Navy zwei Flugzeugträger, die HMS Queen Elizabeth und die HMS Prince of Wales, die in allen Weltmeeren operieren können. Aber auch da sind Mängel sichtbar. Gelegentlich fiel eines der Schiffe wegen technischer Probleme aus. Zumindest ein Flugzeugträger soll stets einsatzbereit sein. Dazu besitzt das Land acht Fregatten (Deutschland: elf), sechs Zerstörer und neun U-Boote. Vier dieser U-Boote der Vanguard-Klasse sind mit Nuklearraketen vom Typ Trident II D5 ausgestattet. Dies ist das Rückgrat der atomaren Abschreckung des Königreichs. In den frühen dreißiger Jahren sollen die gealterten U-Boote durch neue Modelle der Dreadnought-Klasse ersetzt werden.
225 Sprengköpfe besitzt das Land, so das Stockholmer Sipri-Institut, davon liegen mehr als die Hälfte in Lagern. Anders als Frankreich, die zweite europäische Atommacht (mit 290 Nuklearsprengköpfen), verfügt Großbritannien ausschließlich über seegestützte Atomwaffensysteme. Das russische Atomarsenal mit mehr als 5.500 Sprengköpfen stellt beide Länder weit in den Schatten.
Von einer Wehrpflicht ist noch nicht die Rede
In London schwankt die Stimmung zwischen Sorge und Trotz. Man besitze zwar im „wesentlichen sehr gut ausgebildete“ Truppen, die bereit zu militärischen Operationen seien, sagt Verteidigungsminister Healey. Das Land sei aber nicht in der Lage, einen Krieg zu führen. „Wenn wir nicht bereit sind zu kämpfen, sind wir auch nicht in der Lage, abzuschrecken“, erklärte der Minister jüngst. „Wir müssen nicht nur in der Lage sein, unsere Nato-Nationen zu verteidigen, sondern vor allem müssen wir eine effektivere Abschreckung gegen jede künftige Aggression sein.“ Vor kurzem betonte Healey, Großbritannien werde nicht davor zurückschrecken, auf einen russischen Atomangriff mit dem Einsatz eigener Atomwaffen zu antworten.
Generalstabschef Sir Roly Walker warnte vor ein paar Monaten, Großbritannien müsse in drei Jahren kriegsbereit sein. Man habe „gerade noch genug Zeit“, um sich vorzubereiten. Bis Ende 2027 wolle man die Kampfkraft verdoppeln. Das Königreich besitze zwar nur noch eine mittelgroße Armee, so Walker. Doch diese müsse und könne leistungsfähiger werden.
Auf die Frage, ob die britische Regierung die Einführung der Maßnahme zur Stärkung der Streitkräfte in Betracht ziehe, betonte der Kabinettsminister Pat McFadden in der Sendung „Sunday Morning with Trevor Phillips“, daß es in Zukunft „Entscheidungen geben müsse, die auf eine neue Realität reagieren. Wir erwägen keine Wehrpflicht, aber natürlich haben wir eine deutliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben angekündigt.