Der SPD-Politiker Erwin Sellering sorgte mit seinen jüngsten Interviewäußerungen für eine neue Debatte über die Bewertung der DDR-Vergangenheit. Der Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns hatte sich gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung dagegen verwahrt, „die DDR als den totalen Unrechtsstaat zu verdammen, in dem es nicht das kleinste bißchen Gutes gab“. Der aus Nordrhein-Westfalen stammende Sozialdemokrat, der vor seiner politischen Laufbahn zuletzt als Richter in Greifswald tätig war, sprach sich für eine „differenzierte Sicht“ auf den SED-Staat aus: „Es gab Willkür, Unterdrückung und Verfolgung“, stellte Sellering fest. Das müsse aber nicht bedeuten, „daß beim Zusammenwachsen nur das zählt, was aus dem Westen kommt“. Statt dessen forderte er, „vorurteilsfrei“ zu beurteilen, was es an Positivem in der DDR gegeben habe.
Sellerings Kollege Wolfgang Böhmer (CDU) bezeichnete dies als eine „Debatte, die keine sachliche Grundlage hat“. Gegenüber der Leipziger Volkszeitung sagte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident: „Entweder man redet darüber sehr unsachlich und polemisch, oder man ist an einem wirklichen Ergebnis interessiert.“ Die DDR sei das Gegenteil eines Rechtsstaats gewesen, in dem Gesetze auf demokratische Weise zustande kommen. „Deshalb sollte man die DDR wirklich nicht mit der Bundesrepublik vergleichen wollen“, stellte der aus Mitteldeutschland stammende Böhmer fest. Der thüringische SPD-Vorsitzende Christoph Matschie sagte, die DDR sei zweifelsohne ein Unrechtsstaat gewesen. Wer nicht klar und deutlich ausspreche, was wirklich war, verneble die Vergangenheit. Seinen Parteifreund Erwin Sellering forderte Matschie auf, sich als Westdeutscher „bei der Bewertung der Lebensumstände in der DDR zurückhalten“.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Hartmut Koschyk, warf Sellering vor, mit seiner Äußerung die Opfer der SED-Diktatur zu verunglimpfen. Wenn Sellering von der DDR als einem Regime mit einem „Schuß Willkür und Abhängigkeit“ spreche, habe er scheinbar Todesstreifen und Stasi-Gefängnisse vergessen, teilte Koschyk der Presse mit. Dagegen bekräftigte Norbert Nieszery, SPD-Fraktionsvorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern, man dürfe „die Lebenswirklichkeiten“ derer nicht ignorieren, die in der DDR „ihre private Biographie als glücklich und sorgenfrei empfunden“ hätten. Zustimmend äußerte sich auch der Vorsitzende der Linksfraktion im Schweriner Landtag, Wolfgang Methling, der Sellerings Aussagen als „hoffnungsvollen Ansatz“ für eine „ehrliche Geschichtsdebatte“ bezeichnete. Unterstützung erhielt Sellering ebenfalls von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD), der sich gegen ein schwarzweißes DDR-Bild wandte: „Es gab Alltagssolidarität, es gab ein paar ganz sympathische Regelungen in der DDR, an die sich alle erinnern und die in mancherlei Hinsicht – man denke an Bildungsfragen – sogar Vorbild für andere Länder in Europa gewesen sind.“
Friedrich Schorlemmer, einstiger DDR-Oppositioneller und SPD-Politiker, stimmte Sellering „im Prinzip“ zu. Man müsse zwar über die DDR „als politischen Unrechtsstaat reden“, dürfe ihn jedoch „nicht auf eine Stufe mit dem Dritten Reich stellen“. Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz (Bündnis 90/ Die Grünen) zeigte sich von der Tendenz zur Verharmlosung beunruhigt: „Erst heißt es, in der DDR war doch nicht alles schlecht, und am Ende soll herauskommen, in der DDR war sogar vieles besser.“ Auch Vera Lengsfeld, CDU-Bundestagskandidatin und einst prominentes Mitglied der DDR-Opposition kritisierte die heute wachsende Bereitschaft von Politikern und Journalisten, „das Regime in der DDR und die kommunistische Diktatur insgesamt zu verharmlosen“. Gerade mit Blick auf die gern verwendeten Klischees von vermeintlich positiven Errungenschaften des SED-Regimes stellte die frühere Bürgerrechtlerin fest: „Höhere Bildung bekam man in der DDR nur, wenn man dem richtigen Elternhaus entstammte, oder sich so anpaßte, daß die falsche Abstammung durch die gezeigte Ergebenheit dem System gegenüber kompensiert wurde.“
Wer sich dagegen kritisch geäußert habe, sei der Schule verwiesen und vom Studium ausgeschlossen worden. „Ich wünsche Herrn Sellering nichts Böses, aber eine Zahnbehandlung nach Art der DDR, wo Zähne bis auf den Nerv ohne Betäubung gebohrt wurden, von Bohrern mit langsamer Umdrehungszahl, würde ich ihn gern mal erleben lassen. Danach wäre er ganz sicher kein Fan des Gesundheitssystems der DDR mehr“, meinte Lengsfeld abschließend.