Vermutlich“, „wahrscheinlich“, „man kann davon ausgehen, daß“ … das sind die am häufigsten gebrauchten Worte zum Abschluß der Fernsehberichterstattung über die schleswig-holsteinische Landtagswahl am 27. September 2009 spät in der Nacht. „Wahrscheinlich“ nämlich dürfte die Anzahl der Sitze im neu gewählten Landtag ausreichen, um der CDU zusammen mit der FDP die Möglichkeit zu eröffnen, eine Koalitionsregierung zu bilden. Die Unsicherheit rührt von einem überaus komplizierten Landeswahlgesetz her, das nicht nur fest gelegt, daß es Überhangmandate gibt, sondern – und das ist eine schleswig-holsteinische Spezialität – auch Ausgleichsmandate vorsieht. Kürzlich hat die Landeswahlleiterin, Manuela Söller-Winkler, den verwirrten Journalisten erklären müssen, was es damit auf sich hat: Die Hälfte der Abgeordneten wird in den Wahlkreisen direkt und die andere Hälfte über die Landeslisten gewählt. Dabei kann es zu Überhangmandaten kommen. Sie entstehen, wenn eine Partei so viele Wahlkreise direkt gewinnt, daß die Zahl ihrer Mandate höher ist, als ihr nach dem prozentualen Ergebnis ihrer Zweitstimmen zustehen würden. Schleswig-Holstein hat versucht, durch die Einführung von Ausgleichsmandaten, die auf die anderen Parteien entfallen, das Ungleichgewicht wieder auszugleichen. Das Vertrackte: Wie diese Ausgleichsmandate errechnet werden, ist umstritten. Bei der einen Methode ergibt sich eine Mehrheit von drei Stimmen für CDU und FDP, die andere aber läßt Schwarz-Gelb unter die Mehrheitsgrenze absacken.
Doch die Landeswahlleiterin legte sich spät in der Nacht fest und erklärte, sie werde – wie schon bei der vergangenen Kommunalwahl – die Rechenmethode anwenden, die CDU und FDP eine Mehrheit von drei Sitzen zuspricht, um die Lösung im Laufe der Woche dem Landeswahlausschuß vorzulegen. Gibt es auch hier keine Einigung, muß das neu geschaffene schleswig-holsteinische Verfassungsgericht entscheiden. So lange ist alles offen.
Die Grünen und die Linkspartei sprachen bereits von der Möglichkeit, vor Gericht gegen die Überhangmandate zu klagen. Dergleichen hat es in der deutschen Parlamentsgeschichte noch nicht gegeben, aber Schleswig-Holsteins Landtag und die Landesregierung zeichneten sich in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach durch ungewöhnliche Ereignisse aus. Zuletzt hatte 2005 die gescheiterte Wiederwahl von Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) für Aufsehen gesorgt.
Die CDU unter Peter Harry Carstensen, die mit 31,4 Prozent gegenüber der letzten Landtagswahl 8,8 Prozent verloren hat, will sofort mit dem Wahlsieger FDP, die im nördlichsten Bundesland auf stolze 15,1 Prozent kam (plus 8,1 Prozent), Koalitionsverhandlungen aufnehmen. Die SPD unter Spitzenkandidat Ralf Stegner, der seinen Wahlkreis verloren hat, leckt ihre Wunden. Gerade noch 25,3 Prozent der Wähler konnte sie überzeugen, was einen historischen Verlust von 13,4 Prozent bedeutet. Die Grünen kletterten von 6,1 Prozent (2005) auf 12,3 Prozent und dürften zum Gesprächspartner von CDU und FDP werden, wenn das Verfassungsgericht das jetzige Vorgehen der Landeswahlleiterin verwirft.
Daß die beiden Partner der gescheiterten Großen Koalition so vehement verloren, wird nicht zuletzt auf einen Wahlkampfstil zurückgeführt, den Wähler nicht goutieren. Stegner beschimpfte Carstensen in einem Zeitungsinterview als „dickes, rundes Nichts“. Auch soll die Bezeichnung „feiger Sack“ gefallen sein. Carstensen keilte zurück und nannte seinen Kontrahenten einen „Kotzbrocken“. Und als die beiden zu einem Fernsehduell zusammentrafen, hatte der Zuschauer in den ersten Minuten den Eindruck, es könne jeden Moment zu Handgreiflichkeiten kommen. Die Presse schrieb, nie habe es im Fernsehen ein so „konfrontatives Duell mit so erbitterten Vorwürfen“ gegeben. Der Politologe Werner Patzelt von der Technischen Universität Dresden äußerte den Eindruck, hier habe sich der „Klassenflegel“ (Stegner) mit dem „Oberlehrer“ (Carstensen) gestritten. Inhaltlich Neues hat das Streitgespräch nicht ergeben. Die FDP forderte noch am Wahlabend eine Änderung der politischen Kultur in Schleswig-Holstein.
Ob das Wahlergebnis personelle Folgen hat, ist ungewiß. Es wird spekuliert, Peter Harry Carstensen werde als Ministerpräsident nicht während der ganzen Legislaturperiode sein Amt behalten.
Foto: FDP-Spitzenkandidat Kubicki: Verhandlungen mit der CDU