Die Münchner Staatsanwaltschaft will einen heute 89 Jahre alten ehemaligen Leutnant der Gebirgsjägertruppe vor Gericht stellen. Der Vorwurf: Er sei im Sommer 1944 verantwortlich gewesen für den Tod von 14 Italienern, die bei der Bekämpfung von Partisanen ums Leben kamen. Das Verfahren wird begleitet von einer seit Jahren von Linksextremisten geführten Kampagne gegen die Soldaten der Gebirgsjägertruppe. Die Antifa, an der Spitze die bis 1989 von der DDR finanzierte Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), beschuldigt sie vor allem der Greuel beim Kampf gegen kommunistische Partisanen in Italien. Sie stützt sich hauptsächlich auf Material, das ihnen aus Kreisen italienischer ehemaliger Partisanen und deren Organisationen zugespielt wurde. Der italienische Staat hatte sich in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg sehr zurückgehalten, bis vor einigen Jahren italienische Militärgerichte aktiv wurden, die deutsche Angeklagte in Abwesenheit verurteilten. In Juristenkreisen gelten diese Verfahren als außerordentlich fragwürdig, da sie meist unter politischem Druck zustande kamen. Am 15. September soll in München nun der Prozeß gegen Josef S. aus Ottobrunn beginnen. Er war 1944 Leutnant in einem Gebirgsjäger-Pionierbataillon, dessen Kommandeur heute verhandlungsunfähig in einem Pflegeheim lebt. Damals sollte ein Trupp von drei
Gebirgsjägern erkunden, ob eine Brücke in der Nähe eines toskanischen Dorfes funktionsfähig sei. Der Trupp wurde von kommunistischen Partisanen angegriffen, die Soldaten gerieten in Gefangenschaft. Einer konnte entkommen und seine Einheit benachrichtigen. Die fand ihre Kameraden nackt und verstümmelt auf. Das in unmittelbarer Nähe liegende Dorf wurde daraufhin durchsucht; auf aus dem Dorf Fliehende wurde geschossen, wobei einige getötet wurden. Von den fünf Häusern des Dorfes wurden vier zerstört. In das fünfte sperrte man elf Italiener ein. Es wurde dann offenbar gesprengt. Bis auf einen 15jährigen kamen laut Anklage alle übrigen ums Leben. Wer für die Sprengung verantwortlich war, blieb unklar. Der angeklagte ehemalige Leutnant bestreitet, daß es seine Gebirgsjäger-Kameraden gewesen seien. Tatsächlich waren in jener Gegend mehrere andere Einheiten, deutsche wie italienische, mit der Bekämpfung der Partisanen beauftragt. Der Partisanenkrieg hatte, nachdem das mit Deutschland zunächst verbündete Italien im September 1943 die Fronten gewechselt hatte, Ausmaße eines schrecklichen Bürgerkrieges angenommen. Die überwiegend von Kommunisten geführten Partisanen kämpften sowohl gegen ihre faschistischen Landsleute als auch gegen die deutsche Wehrmacht, die nach dem Abfall Italiens das Land besetzt hatte. Die von dem bisherigen Ministerpräsidenten Benito Mussolini neu gegründete Italienische Soziale Republik stellte nicht nur ein neues italienisches Heer auf, sondern es wurden auch Einheiten der Guardia Nazionale Republicana, Schwarzhemden-Brigaden (Brigate Nere), spezielle Polizeieinheiten, ja, sogar eine italienische Waffen-SS geschaffen, die den Kampf gegen die vorrückenden Alliierten wie auch gegen die Partisanen aufnahmen. Die Wehrmacht, die sich innerhalb des Bürgerkrieges nach Norden zurückkämpfte, hatte erhebliche Verluste. Die Süddeutsche Zeitung, die ebenso wie das Fernsehen des Bayerischen Rundfunks aus ihrer Parteilichkeit keinen Hehl macht, befürwortet das Verfahren, da ihrer Meinung nach viel zu wenige deutsche Kriegsverbrecher verurteilt worden sind. Unter Berufung auf die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg nennt die Zeitung die Zahl von insgesamt 23.498 in der Bundesrepublik und der DDR verurteilten Kriegsverbrechern. Sie hofft, daß dieser Prozeß nicht nur „die Geschichte deutscher Kriegsverbrechen“ aufarbeitet, sondern auch „die Versöhnung mit den Angehörigen der Opfer“ fördert. Das Verfahren wirft grundsätzliche Fragen nach dem Sinn von Prozessen gegen hochbetagte Angeklagte auf: Als in Hamburg vor sechs Jahren ein 93 Jahre alter ehemaliger Offizier vor Gericht stand, befaßte sich der Staatsrechtler Ingo von Münch in einem Beitrag in der Juristenzeitung mit „Greisen vor Gericht“. „Die Gefahr (und damit auch die verfassungsrechtliche Fragwürdigkeit) von Strafverfahren gegen Personen wegen Taten, die länger als ein halbes Jahrhundert zurückliegen, besteht darin, daß solche Verfahren zum politisch-historischen Selbstzweck werden: Es geht dann nicht mehr primär um den einzelnen Angeklagten, sondern um ‚Aufarbeitung von Vergangenheit‘, um ‚Erinnerungs- und Aufklärungskultur‘.“ Er schließt mit der Frage: „Wann wird ein Hundertjähriger vor Gericht stehen?“ In Ottobrunn, dem Heimatort des Angeklagten, ist die Meinung jedenfalls eindeutig. Die vom Bayerischen Rundfunk befragten Bürger des Ortes, wo Josef S. zwanzig Jahre lang im Gemeinderat saß, lehnten einhellig das Verfahren mehr als sechzig Jahre nach den Ereignissen ab.
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