Der Onkel war ein bekannter Geigenvirtuose in Wien, und auch Neffe Wolfgang Schneiderhan versteht sich auf die Welt der Töne. Hantierte der berühmte Musiker mit Noten, so sind für den mit 62 Jahren inzwischen nicht mehr ganz so jungen Verwandten aus Oberschwaben Buchstaben und Zahlen wichtiger, mit denen er die Situation der Bundeswehr schildert. Was viele Beobachter für ein Trauerspiel halten, wird durch Schneiderhans Darstellung eine Symphonie der Freude, die vor allem einen Zuhörer in den Bann zieht: Verteidigungsminister Franz Josef Jung. Der arglose hessische Winzersohn, den eine Laune des Schicksals an den Berliner Kabinettstisch gespült hat, an den er sich seit drei Jahren klammert, glaubt und vertraut seinem Generalinspekteur. Er glaubt ihm so treuherzig, daß Schneiderhans Amtszeit von Jung jetzt bis Mitte 2010 verlängert wurde, obwohl er nach den Grundsätzen der Bundeswehr in den Ruhestand hätte gehen müssen. Das dürfte Schneiderhans größter Erfolg gewesen sein. Er ist ohnehin schon der am längsten im Amt befindliche Generalinspekteur (seit 2002) und dient jetzt unter dem dritten Minister und dem zweiten Kanzler. Mit der Amtsverlängerung hat der General dem Minister endgültig gezeigt, wer im Ministerium den Ton angibt: Der CDU-Politiker ist es mit Sicherheit nicht. Es gibt in der deutschen Politik ein eisernes Gesetz: Frei werdende Stellen sind neu zu besetzen, solange man eine Mehrheit dafür hat. Man weiß nicht, welche Mehrheiten nach der Bundestagswahl 2009 im Bundestag herrschen. Man weiß nur, daß Jung jetzt einen neuen Generalinspekteur hätte berufen müssen, der die Verantwortung für die Bundeswehr auch weit über die Wahl hinaus innegehabt hätte. Möglicherweise wird hier einer rot-rot-grünen Mehrheit das Feld überlassen, deren Inspekteur die Abschaffung der Wehrpflicht mitbetreiben könnte. Schneiderhans schöne Welt der Zahlen und Einsatzfähigkeit hat dazu geführt, daß die Verbündeten und besonders die Vereinigten Staaten, zuletzt in Gestalt des Präsidentschaftsbewerbers Barack Obama, nach immer mehr deutschen Soldaten für Afghanistan gieren. Denn obwohl die Zustands- und Einsatzberichte der Kommandeure von einer Armee des Mangels und der Einsatzunfähigkeit sprechen, ist vom Generalinspekteur in wohlklingenden Worten stets das Gegenteil zu hören. So trug er mit seinem gewohnten Lächeln die Verstärkung des deutschen Einsatzkontingents für Afghanistan um weitere 1.000 Soldaten vor. Wie es im Verteidigungsministerium abgeht, wurde im Frühherbst 2006 bekannt. In einer Gesamtbewertung der Streitkräfte kam zum Beispiel das deutsche Heer zu dem Ergebnis, daß im Heer nur noch ein „stark eingeschränkter Betrieb“ möglich sei. Das Heer trägt die Hauptlast der Einsätze. Es fehlt an allem: Ersatzteile sind knapp, Sprit ist oft alle, und die Soldaten mit den angeforderten Fähigkeiten stehen nicht zur Verfügung. Diese Unterlagen lagen wochenlang auf Schneiderhans Schreibtisch. Dort lagen auch Berichte aus Afghanistan, in denen von einer schlechten Sicherheitslage die Rede war. Die deutschen Lager seien unzureichend geschützt, es gebe zu wenig gepanzerte Fahrzeuge, und eine gepanzerte Reserve müsse her. Schneiderhan zeichnete die Papiere Anfang August 2006 gegen. Bis Ende August wußte Jung nichts von dem brisanten Material. Erst als durchsickerte, daß angeblich Abgeordnete die Unterlagen hätten, wurden die Papiere dem auf Reisen befindlichen Minister hinterhergeflogen. Im Intrigantenstadl des Berliner Bendler-Blocks gilt der öffentlich stets lächelnde Schneiderhan als Spinne im Netz. Schon 2004, als der SPD-Mann Peter Struck noch Minister war, verfing sich Heeresinspekteur Gert Gudera in diesem Netz. Gudera hatte Krach mit Schneiderhan, weil der Generalinspekteur die Panzertruppe so zusammenstreichen wollte, daß das Heer seinen Namen eigentlich nicht mehr verdient und Landesverteidigung entfällt. Gudera blieb nur der eilige Rücktritt, bevor er gefeuert werden konnte. Die Liste der Opfer ist noch länger: Prominente Fälle sind der frühere stellvertretende Heeresinspekteur Jürgen Ruwe und der Inspekteur der Streitkräftebasis Hans-Heinrich Dieter (JF 6/06). Beide mußten gehen, weil sie angeblich Unterlagen über Ruwes an der Bundeswehr-Universität Hamburg studierenden Sohn, dem sexistische und rechtsradikale Äußerungen vorgeworfen wurden, ausgetauscht hatten – ein Verstoß gegen Vorschriften der Bundeswehr. Nur: Laut Dieters Aussage war Schneiderhan von Anfang an über den Fall informiert. Der oberste Soldat unternahm nichts und sah zu, wie die Generale in die Falle liefen. Die Entlassung kam Schneiderhan gelegen. So lehnte auch Ruwe die Reformvorstellungen des Generalinspekteurs ab. Jung hätte Schneiderhan als Mitwisser ebenfalls feuern müssen, was unterblieb. „Schneiderhan dreht ein großes Rad“, befand die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Das ist richtig. Auf das Konto des Generalinspekteurs geht die Umstrukturierung der Bundeswehr in eine Armee, die aus 35.000 für offensive Einsätze ausgebildeten Soldaten besteht. Weitere 70.000 Soldaten sollen für Stabilisierungseinsätze zur Verfügung stehen. Der Rest (145.000) sind Unterstützungssoldaten in der Heimat. In der Praxis ist diese Truppe nur mit Mühe in der Lage, einen kleinen Einsatz wie im Kongo zusätzlich zu schultern. Ende 2005 wollte Schneiderhan zum ganz großen Schlag ausholen und die Teilstreitkräfte Heer, Luftwaffe und Marine entmachten. Ein Proteststurm und Indiskretionen, die diese Absichten in die Presse brachten, verhinderten das Vorhaben. Dennoch gelang es Schneiderhan inzwischen, bei sich einen Einsatzführungsstab zu installieren, der neben dem Einsatzführungskommando in Potsdam und den Führungsstäben der Teilstreitkräfte arbeitet. Der in der Truppe seit längerem schon zu beobachtende Aufbau paralleler Strukturen anstelle klarer Hierarchien geht weiter. Politisch ist das Wirken des Generalinspekteurs eine einzige Katastrophe. Zu seiner unterfinanzierten und mit zu wenig Personal ausgestatteten Schönwetter-Armee gehört natürlich auch, daß eine ehrliche Bestandsaufnahme über den problematischer werdenden Afghanistan-Einsatz nicht stattfindet. Statt dessen werden Phrasen über den Wiederaufbau gedroschen, und der deutsche Außenminister darf Entwicklungshilfe-Projekte im westafghanischen Herat übergeben, die schon seit einem Jahr in Betrieb sind. Das nannte man zu Zeiten des Zaren Potemkische Dörfer. Und Jung, der sich stets auf den beschönigenden Rat seines Generalinspekteurs verläßt und jeder kritischen Afghanistan-Debatte aus dem Weg geht, fing sich in der Financial Times Deutschland einen neuen Titel ein: „Minister Hasenfuß“.
- Deutschland