Herr Professor Coja, die Europäische Kommission hat letzte Woche entschieden, daß Bulgarien und Rumänien – trotz Defiziten in einigen Bereichen – zum 1. Januar 2007 der EU beitreten können. Das Thema Ostgrenze wurde hingegen kaum angesprochen. Denn nicht alle Rumänen werden 2007 EU-Bürger, über drei Millionen leben in der Moldau-Republik (Moldawien/Bessarabien) östlich des Pruth. Die Situation erinnert etwas an die deutsche Situation vor 1990, als nur die Bundesrepublik Teil der EG war und die DDR hinter dem „Eisernen Vorhang“ lag. Wie wird sich der EU-Beitritt auf das Verhältnis der beiden Länder auswirken? Coja: Natürlich wird Rumänien für die Bürger Moldawiens ab 2007 noch attraktiver. Immer mehr beantragen die rumänische Staatsbürgerschaft. Vor allem die Jugend orientiert sich in Richtung Bukarest, während der Glanz Moskaus zu verblassen scheint – nicht nur bei den Rumänen in Bessarabien, sondern auch bei der russischen Minderheit. Es kommen immer mehr Anträge auf die rumänische Staatsbürgerschaft auch von Seiten der dortigen Minderheiten. Das rumänische Staatsangehörigkeitsrecht erinnert an die deutsche Praxis. Coja: Jeder Rumäne außerhalb der aktuellen Grenzen, der nachweisen kann, daß er, seine Eltern oder seine Großeltern die rumänische Staatsbürgerschaft innehatten, erhält diese von uns neu ausgestellt. Der rumänische Staat erkennt den Hitler-Stalin-Pakt nicht an, der zur Annexion Bessarabiens, der Nordbukowina und der Süddobrudscha führte. Aus unserer Sicht haben Bürger aus diesen Regionen – rechtlich gesehen – nie aufgehört rumänische Staatsbürger zu sein. Auch wenn die EU hier versucht einen Riegel vorzuschieben – vor den betreffenden Ämtern in Bukarest, aber auch vor unserem Konsulat in Chişinău (Kischinew) bilden sich täglich lange Schlangen von moldawischen Antragstellern. Gibt es somit einen EU-Beitritt Moldawiens „durch die Hintertür“? Coja: Desto mehr Moldawier die rumänische Staatsbügerschaft beantragen, umso stärker nähert sich die Moldau-Republik an Rumänien und auch an die EU an. Moldawien wird ab 2007 der Staat sein, in dem wohl die meisten EU-Bürger außerhalb der EU leben. Bedeutet der EU-Beitritt Rumäniens aber nicht den Verzicht auf eine Wiedervereinigung mit der Moldau-Republik? Coja: Sollte jemals eine solche Entscheidung von uns gefordert werden, so würde ich mit meinen Kollegen aus der Vatra Românească die Wiedervereinigung mit Moldawien wählen. Ich bin allerdings davon überzeugt, daß der Anschluß Rumäniens in die EU einen wichtigen und entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Vereinigung aller Rumänen in einem einzigen Staat bedeutet. Rumänien wird trotz des Wirtschaftsaufschwungs seit dem Ende der Ceauşescu-Diktatur – für dieses Jahr wird ein Wachstum von fü nf bis sechs Prozent erwartet – eines der ärmsten EU-Länder sein. Moldawien gilt sogar als das „Armenhaus Europas“. Gibt es trotzdem eine europäische Perspektive für dieses Land? Coja: Ich finde, daß die Bezeichnung „Armenhaus Europas“ nicht paßt. Vielmehr ist es eine Region mit einem hoffnungsvollen wirtschaftlichen Entwicklungspotential. Hinzu kommt die territoriale Lage. Moldawien hat eine natürliche Brückenfunktion zur Ukraine und den GUS-Staaten. In der EU müßte man das als Chance wahrnehmen. Aber schon der Beitritt Rumäniens und Bulgariens wird in Westeuropa mit gemischten Gefühlen betrachtet. Angst vor Lohndrückerei, massiver Einwanderung und Kriminalität – Stichwort: „Rumänen-Banden“ – besteht vor allem in Deutschland. Coja: In Deutschland wie in ganz Westeuropa fällt man ein falsches Urteil, das uns sehr schmerzt. Denn überwiegend waren es Zigeuner, die in den neunziger Jahren massenhaft nach Westeuropa und vor allem nach Deutschland ausgereist sind und durch ein entsprechendes Verhalten für Unruhe gesorgt haben. Bei den Zigeunern handelt es sich aber nicht um Rumänen und auch nicht um eine exklusive rumänische Minderheit, sondern um eine europäische. Früher reisten sie meist als fahrendes Volk durch ganz Europa, ohne an irgendwelche Grenzen gebunden zu sein. Dieses Recht, die Rückkehr zu ihren traditionellen Lebensformen, muß ihnen wieder eingeräumt werden – gerade im Rahmen der EU. Gleichzeitig ist es notwendig, in einer gemeinsamen Anstrengung den Zigeunern die Voraussetzungen zu schaffen, daß sie sich wirtschaftlich und sozial in den Gesellschaften zurechtfinden können. Aber bitte sorgen Sie sich nicht vor „rumänischer Kriminalität“. Polen engagiert sich für die Ukraine. Wird Rumänien der EU-„Pate“ Moldawiens? Coja: Rumänien ist eine Einheit und ein Teil von ihr fehlt. Um mit heideggerischen Begriffen zu sprechen: die beiden Teile haben keine Identität ohne den jeweils anderen. Moldawien bekommt auf jeden Fall einen starken Fürsprecher innerhalb der EU. Unsere Wiedervereinigung hätte schon 1991 stattfinden können, wenn damals nicht in Bukarest eine Regierung aus KGB-Agenten verantwortlich gewesen wäre. Achtbare politische Kräfte − stehen diese nun rechts oder links − wollen die Wiedervereinigung. Leider gibt es davon in der derzeitigen rumänischen Politik aber noch zu wenige, dafür aber eine weitverbreitete korrupte politische Klasse. Wenn man die Menschen nach ihrem Willen und ihrem Verstand urteilen läßt, dann wünscht sich eine Mehrheit die Vereinigung. Alle Meinungsumfragen in Rumänien sprechen dafür – die letzte vom Juli dieses Jahres. Die Vereinigung mit dem Mutterland ist genauso notwendig und richtig, wie es die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 gewesen ist. Voraussetzung für eine Wiedervereinigung ist eine Lösung des Transnistrien-Konflikts. Am 17. September haben sich die Bürger des – völkerrechtlich zu Moldawien gehörenden – Gebiets östlich des Dnister (Nistru) in einem Referendum für die Unabhängigkeit und den Anschluß an Rußland ausgespochen (JF 38/06). Coja: Rußland wird versuchen, das Resultat in den Verhandlungen mit der Ukraine, Rumänien und der internationalen Gemeinschaft als Manövriermasse zu nutzen. Wie könnte eine Lösung aussehen? Coja: Rußlands Interesse liegt vor allem in seiner militärischen Präsenz in Transnistrien, nah an der Donau und nah dem Nato-Mitglied Rumänien. Die Anwesenheit russischer Truppen in Transnistrien müßte akzeptiert werden, und im Gegenzug verzichtet Rußland aber auf sein doppelbödiges politisches Taktieren, das ja 1992 zur Gründung dieser sogenannten Republik Transnistrien geführt hat. Der Hebel liegt ganz klar in Moskau. Notwendig ist ein gemeinsames Vorgehen der diplomatischen Kräfte aus Bukarest und Chişinău. Eine Präsenz russischer Truppen schreckt uns dabei nicht so sehr. Genau wie es auf Kuba amerikanische Militärbasen gibt, könnte auch Rußland seine Basen – natürlich im Rahmen besonderer Verträge – in Transnistrien behalten; selbst wenn die Region wieder mit Moldawien vereint oder sogar Teil Rumäniens sein sollte. Wäre eine Vereinigung ohne Transnistrien – das ja nur von 1941 bis 1944 zu Rumänien gehörte – nicht viel einfacher? Coja: Natürlich. Aber was passiert dann mit Transnistrien, das dann als russische Enklave zwischen der Ukraine und Rumänien eingeschlossen liegt und weiterhin das Zentrum der staatlich geschützten organisierten Kriminalität in der Region wäre? Eine völkerrechtlich verbindliche Lösung ist hier unumgänglich. Professor Dr. Ion Coja , Jahrgang 1942, lehrt Literaturwissenschaft an der Universität Bukarest, von 1992 bis 1996 war er Senator für die konservative Agrarpartei (PDAR). Seither Präsident der Bukarester Filiale der rechtsnationalen Kulturbewegung Vatra Româneasca (Rumänische Heimstatt). Fotos: Großrumänien, Ion Coja: Fürsprecher, Altes Rathaus in Kronstadt/Siebenbürgen: Eine Region mit wirtschaftlichem Entwicklungspotential weitere Interview-Partner der JF
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