Bei einem brutalen Überfall auf einen Linienbus in Marseille erlitt eine 26jährige schwarze Studentin schwere Verbrennungen an 70 Prozent des Körpers – sie wird ihr Leben lang gezeichnet sein. Während man in Deutschland angesichts der senegalesischen Herkunft des Opfers sofort einen „rechtsradikalen“ oder „fremdenfeindlichen Hintergrund“ vermutet hätte, kam in Frankreich niemand auf eine solche Idee. Die sechs Verdächtigen, die Benzin in den Bus geschüttet und angezündet hatten, konnten mittlerweile festgenommen werden; es sind Jungen zwischen 15 und 17 Jahren „mit Migrationshintergrund“. Dem Angriff vom 28. Oktober auf Leib und Leben der Fahrgäste waren in französischen Großstädten innerhalb einer Woche sechs Brandanschläge auf Busse vorausgegangen, die allerdings zuvor evakuiert wurden. Diese und zahlreiche weitere Gewaltakte der vergangenen Wochen wurden in Frankreich medial in einen engen Zusammenhang mit dem ersten Jahrestag des Beginns der gewalttätigen Ausschreitungen gestellt, die Ende Oktober 2005 in den Einwanderervororten von Paris und anderen Städten Frankreichs ausbrachen (JF 45/05). Bis Ende September wurden 31.514 Autos angezündet Im Verlauf dieser wochenlangen Banlieue-Unruhen, die vorwiegend von jungen Männern maghrebinischen oder schwarzafrikanischen Ursprungs ausgingen, waren über 10.000 Autos und über 300 öffentliche Gebäude in Brand gesetzt worden. Im November 2005 reagierte Staatspräsident Jacques Chirac auf die fortgesetzte organisierte Gewaltausübung jugendlicher Cliquen mit einer Verhängung des Notstandes gemäß einem Gesetz von 1955, das die IV. Republik 1958 erstmals im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg angewandt hatte. Nachdem etwa Ausgehverbote für Minderjährige für eine gewisse Beruhigung der Lage sorgten und die Ausschreitungen zum Jahreswechsel 2005/06 in ihrem befürchteten Ausmaß ausblieben, erklärte die Regierung bereits Anfang Januar 2006 den Notstand für aufgehoben – wenngleich in der Silvesternacht 425 Autos brannten. Wer jedoch mit dem Ende des Notstands die Rückkehr zu der Normalität einer flächendeckend garantierten Rechtssicherheit erhoffte, sah sich in den folgenden Monaten vielfach enttäuscht. Die französische Polizeistatistik verdeutlicht die Dimensionen (jugend-)krimineller Gewaltausübung in der „Ruhephase“ der ersten neun Monate diesen Jahres: Bis Ende September wurden 31.514 Fahrzeuge angezündet – durchschnittlich 115 pro Tag. In diesem Zeitraum wurden 4.244 Ordnungshüter zu Opfern kollektiver Angriffe, 2.890 von ihnen wurden verletzt. So führte insbesondere der jüngste Vorfall in Marseille – weit davon entfernt, als ein isolierter Gewaltakt Einzelner erscheinen zu können – der französischen Öffentlichkeit erneut den im Kern terroristischen Charakter der „Jugendunruhen“ vor Augen, die in den letzten zwölf Monaten oft als „Sozialproteste“ romantisiert worden waren. Chirac brandmarkte bereits am Tag nach dem Anschlag in Marseille die „abscheuliche Tat“ und stellte in Aussicht, die Täter „mit äußerster Härte zu bestrafen“ – theoretisch drohen ihnen bis zu 30 Jahre Haft. Die aussichtsreiche sozialistische Präsidentschaftsanwärterin Ségolène Royal (PS) hat einen „Fünfjahresplan“ für die Vorstädte vorgeschlagen. Zugleich bekräftigte sie ihr bereits angekündigtes Projekt, jugendliche Straftäter durch den Einsatz von Militär zu bewachen – als Alternative zur Inhaftierung, denn „alle republikanischen Mittel sind brauchbar“, meinte die frühere Familienministerin. Die Verteidigungsministerin und mögliche UMP-Präsidentschaftskandidatin Michèle Alliot-Marie, die nicht wie Innenminister Nicolas Sarkozy im Ruf eines rhetorischen Scharfmachers steht, stellt nüchtern fest, die jüngsten Gewalttaten zeigten, daß „man töten will“. Andererseits legt Alliot-Marie Wert darauf, daß in den Banlieues einem „harten Kern“ junger Gewalttäter eine Mehrheit gegenüberstehe, die sich nach Frieden und Sicherheit sehne. Bruch mit der modernen und demokratischen Gesellschaft In der Tat müssen sich vor allem jene Bewohner der Vorstädte, deren bescheidener Wohlstand sich etwa in dem Besitz von Autos zeigt, als die Hauptleidtragenden einer Situation begreifen, in der die Staatsgewalt offenkundig nur unzureichend bereit und auch in der Lage ist, jedem Bürger der Republik – unabhängig von seinem Wohnort – das Recht auf Eigentum und körperliche Unversehrtheit zu garantieren. Die öffentliche Auseinandersetzung mit den Gewaltexzessen in den Banlieues ist eng verknüpft mit der Debatte über Frankreichs „republikanisches Integrationsmodell“. In dessen Zentrum steht das Ideal einer politisch-kulturell homogenen und den Menschen- und Bürgerrechten verpflichteten Staatsbürgergemeinschaft. Bereits im Jahr 2003 klagte bemerkenswerterweise der linksrepublikanisch-jüdische Intellektuelle Alain Minc die französische Staatsführung an, integrationspolitisch einem Multikulturalismus angelsächsischer Prägung nachzueifern. Der Bericht des französischen Schulinspektors Jean-Pierre Obin vom Mai 2005 diagnostizierte ein Scheitern des Versuchs, ethno-religiöse Abkapselungsbestrebungen durch eine multikulturalistische „Politik der Anerkennung“ zu besänftigen: Es seien „geschlossene Gegengesellschaften errichtet worden, deren Normen sich oftmals in starker Diskrepanz, ja im Bruch mit denen der modernen und demokratischen Gesellschaft befinden“ (JF 47/05). Zu den „schwersten Ausschreitungen“ sei es dort gekommen, „wo man nachgegeben hat, Kompromisse eingegangen ist“. „Neorepublikaner“ wie Alain Finkielkraut (JF 31-32/06) sehen die Nachgiebigkeit gegenüber islamischem „Kommunitarismus“ nicht zuletzt in einer nationalen Selbstgeißelung Frankreichs begründet. In diesem Sinne machte der jüdische Philosoph als eine Ursache des Antirepublikanismus junger Einwanderer die Weigerung der politischen und intellektuellen Elite Frankreichs aus, auch positive Aspekte der französischen Kolonialvergangenheit herausstreichen. Foto: Bereitschaftspolizisten in Paris: Antirepublikanismus und ethno-religiöse Abkapselung der Einwanderer