Der Jahreswechsel ist traditionell Anlaß, sowohl im Privaten als auch im gesellschaftlichen Leben über das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachzudenken. Verheißungen und Pläne des vergangenen Jahres werden an der Wirklichkeit der Gegenwart gemessen und damit die Wünsche für eine bessere Zukunft an ihren realistischen Voraussetzungen in der Gegenwart. Wie und welche Wünsche wir aussprechen beziehungsweise empfangen, gestattet schon aufschlußreiche Rückschlüsse.
Selbstverständlich wird wohl niemand auf die Idee kommen, aus den inflationär geäußerten Wünschen für einen "guten Rutsch", für "alles Gute", für "viel Glück und vor allem Gesundheit", die im Umgang mit Freunden, Bekannten und Kollegen ausgetauscht werden, tiefenpsychologische Schlüsse zu ziehen. Auch die um sich greifende Wendung "Ich wünsch‘ dir was" dürfte trotz ihrer sibyllinischen Anmutung nur die wenigsten zum Nachdenken darüber veranlassen, was mit dem "was" konkret gemeint sein könnte.
Ganz anders verhält es sich mit den obligatorischen Wünschen, die von namhaften Repräsentanten des öffentlichen Lebens auch zu Beginn dieses neuen Jahres abgegeben wurden. Sie regen sehr zum Nachdenken an, weil sie die Stimmungslage in unserem Volke nachhaltig beeinflussen. Auch wenn man die ehrlichen Absichten und Überzeugungen nicht von vornherein bezweifeln möchte, so stellt sich doch immer wieder die Frage, ob sie die notwendigen Voraussetzungen der Verwirklichung dieser Wünsche ausreichen geprüft haben – oder ob sie sich nicht abermals über das ganze Ausmaß der real existierenden Probleme in unserem Volke in ideologischer Verblendung getäuscht haben. Aus Täuschungen erwachsen Enttäuschungen; aus Enttäuschungen Apathie, Verdrossenheit und Resignation.
Sehr viel wichtiger als die guten Wünsche wären konkrete Zeichen des Willens zur Abkehr von den ideologischen Fixierungen der letzten Jahre gewesen, die vor allem von den Trugbildern einer rabenschwarzen deutschen Vergangenheit und einer rosa-rot verklärten Zukunft in einem multikulturellen Europa diktiert werden. Es ist deshalb dringend geboten, wieder einmal an die Warnungen George Orwells zu erinnern: Wer die Gegenwart kontrolliert, der kontrolliert die Vergangenheit; wer die Vergangenheit kontrolliert, der kontrolliert die Zukunft. Alle guten Wünsche für unsere Zukunft bleiben "fromme Wünsche", wenn wir diese Erfahrungen mit den Ideologien der letzten Jahrzehnte nicht beachten.
Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.