Wäre im März diesen Jahres in Polen ein neues Parlament gewählt worden, dann hätten nur noch acht Prozent von einst 41 Prozent der Wahlberechtigten für die amtierende Regierungskoalition gestimmt. Somit würde die Fraktion der Regierungskoalition aus der ex-kommunistischen Linksallianz (SLD) und der Arbeiterpartei (UP) im polnischen Sejm sich von derzeit 216 auf 43 Abgeordnete verringern. Laut dieser Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CBOS wäre die von Andrzej Lepper geführte linkspopulistische und EU-feindliche Samoobrona (Bäuerliche Selbstverteidigung) mit 29 Prozent der Stimmen die stärkste Kraft im polnischen Sejm geworden. Die liberale Bürgerplattform (PO) hingegen, die lange Zeit als Gewinnerin aus solchen Umfragen hervorging, würde mit 26 Prozent der Stimmen nur zweitstärkste Partei werden. Damit würde sie ihr Ergebnis der letzten Parlamentswahlen im Jahr 2001 verdoppeln. Darauf folgen würden die EU-kritische katholisch-rechtsnationale Liga der polnischen Familien (LPR) mit zehn Prozent, die rechtskonservative Partei PiS mit neun Prozent und erst dann die SLD-UP-Koalition mit acht Prozent der Stimmen. Die bäuerliche Volkspartei PSL (eine Ex-Blockpartei) würde mit vier Prozent den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde nicht schaffen. Aller Voraussicht nach hat die jetzige Regierungskoalition keinerlei Chancen mehr, bei den nächsten Parlamentswahlen wieder stärkste politische Kraft zu werden. Daher zeichnet sich jetzt, knapp drei Monate vor den Wahlen zum Europaparlament, ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der PO und der Samoobrona ab. Zu den niedrigen Umfragewerten der Regierungskoalition kommt noch hinzu, daß mit dem „neoliberalen“ Kurs der SLD unzufriedene Regierungsabgeordnete eine neue Partei gegründet haben. Marek Borowski, bis vor kurzem noch Sejm-Marschall (Präsident des polnischen Parlaments), und Dutzende weitere Prominente der Linksallianz wechselten in die neue Socjaldemokracja Polska (SP). Nach einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pentora würde die SP auf 18 Prozent der Wählerstimmen kommen. Ex-Finanzminister Belka soll neuer Regierungschef werden Dadurch geriet auch der amtierende polnische Premier Leszek Miller unter Beschuß aus den eigenen Reihen. Borowski sagte, daß Miller das Vertrauen der Bevölkerung verloren habe und mit Sicherheit zurücktreten müsse, jedoch müsse dies in einer Weise geschehen, die das Funktionieren des Landes nicht beeinträchtige. Krzysztof Janik, der neue Partei- und Fraktionsvorsitzende der SLD – Miller war ähnlich wie Kanzler Gerhard Schröder vom Parteivorsitz zurückgetreten -, versuchte jedoch zunächst auf Zeit zu spielen: Der Premier sei in Brüssel und kämpfe für die polnischen Interessen. Doch nach seiner Rückkehr von den EU-Verhandlungen kündigte Miller seinen Rücktritt als Premier zum 2. Mai an – einen Tag nach dem EU-Beitritt des Landes. Als Nachfolger Millers nominierte Staatspräsident Aleksander Kwasniewski Marek Belka – Wirtschaftsprofessor, ehemaliger Finanzminister und Berater des Präsidenten, sowie bis Ende März 2004 für den Wiederaufbau der irakischen Wirtschaft zuständig. Miller hat sich inzwischen hinter Belkas Kandidatur gestellt. Belka sei Garant dafür, daß sich die Wirtschaft weiterhin schnell entwickeln werde, so Miller. Da Belka etwa 30 Stimmen zur Mehrheit fehlen, warb er letzte Woche auch vor den Abgeordneten der rechten LPR für sein Regierungsprogramm. Belka warnte seine Kritiker gleichzeitig vor vorgezogenen Neuwahlen. Viele SLD- und PSL-Abgeordnete würden hingegen lieber Innenminister Jozef Oleksy zum Ministerpräsident wählen. Indes verschärfte sich die gegenseitige Kritik innerhalb der zerstrittenen Opposition. So beschuldigte Jan Rokita, Fraktionsvorsitzender der PO, auf dem polnischen Radiosender Zet in einer gemeinsamen Diskussion der beiden Oppositionsführer Samoobrona-Chef Lepper unter anderem, daß er von den Geheimdiensten in Moskau und Wiesbaden geschult worden sei. Des weiteren prangerte er den sehr großen materiellen Wohlstand vieler Abgeordneter der Samoobrona an, die auf schleierhafte Weise schnell reich geworden seien. Ferner warf er Lepper vor, den polnischen Präsidenten Aleksander Kwasniewski als einen Lumpen beschimpft zu haben. Lepper hingegen warf Rokita vor, daß die PO nur an die Macht kommen wolle, um sich daran materiell zu bereichern. PO-Chef Donald Tusk und Fraktionschef Jan Rokita verteidigten auf dem Parteitag der Bürgerplattform den harten Standpunkt Polens gegenüber der künftigen EU-Verfassung. Rokita wurde auch im Ausland durch seine Formel „Nizza oder Tod“ bekannt, die er im polnischen Sejm verkündete. Alle entscheidenden politischen Parteien hatten die polnische Regierung in ihrem klaren Nein zur Europäischen Verfassung unterstützt – was nun schwierig wird, nachdem in Spanien eine EU-freundliche Regierung an die Macht gekommen ist. Tusk sagte im polnischen Radio Zet, daß es ein Problem geben könnte, wenn der polnische Premier Miller von dem Brüsseler Gipfel zurückkehren und den Polen verkünden würde, daß die Regierung zwar den Beitrittsvertrag unterschrieben habe, aber nun unter für sie schlechteren Bedingungen der EU beitreten würde. Dies würde auch Tusk große Schwierigkeiten bereiten, schließlich habe man sich mit Europa auf etwas anderes geeinigt – und werde dies auch erlangen. Der polnische Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz hingegen schloß nicht aus, daß eine Einigung im Streit um die EU-Verfassung auf Basis der von Deutschland geforderten doppelten Mehrheit gefunden werden könne.