Während des Kalten Krieges war die innenpolitische Lage man-cher Nato-Mitglieder oder solcher Länder, die mit der westlichen Militärallianz zusammenarbeiteten, selten ein Gegenstand der öffentlichen Debatte. Als 1991 der blutige Zerfall Jugoslawiens begann, suchte das Auswärtige Amt in Bonn händeringend nach wissenschaftlichen Arbeiten über Jugoslawien an den deutschen Universitäten – man fand nur wenig Brauchbares. Die Folgen sind bekannt. Über die Türkei gab und gibt es viel – denn die Nato wollte ihren wichtigen Partner als einen demokratischen Staat präsentieren. Türkische Journalisten und Wissenschaftler, die versucht haben, ein realistisches Bild der Türkei zu zeichnen, wurden oft als „Kommunisten“ abgetan, sie fanden kaum Beachtung. Die islamistische Bewegung in der Türkei, die erstmals 1950 in Gestalt der Demokratischen Partei (DP) in Regierungsverantwortung kam, wurde zu Recht als eine antidemokratische Bewegung eingestuft, die obendrein die Zugehörigkeit der Türkei zum Westen bedrohte. Doch kaum jemand hat hinter die Kulissen der DP geschaut – immerhin wurde die Türkei unter DP-Premier Adnan Menderes Mitglied der Nato. Wie konnten die langjährigen Führungsmitglieder der kemalistischen Einheitspartei CHP – Menderes und Staatspräsident Celal Bayar – binnen kurzer Zeit die DP von einer konservativ-wirtschaftsliberalen zu einer islamistischen Partei umfunktionieren? Menderes selbst stellte 1960 in der Großen Nationalversammlung laut die Frage, ob nicht das Kalifat wieder eingeführt werden sollte. Diese Überlegung war der auslösende Moment für den Militärputsch vom Mai 1960 – 1961 wurde Menderes hingerichtet. Dabei war es Menderes, der 1959 den Beitrittsantrag zur damaligen EWG stellte. 1963 wurde dessenungeachtet das Assoziierungsabkommen zwischen der EWG und der Türkei unterzeichnet. Trotz dieses Rückschlags blieb die islamistische Bewegung in der Türkei lebendig. Der Westen glaubte Ankaras Interpretation, dies sei eine Bewegung von unverbesserlichen Islamisten, die allein in der Unterentwicklung der Türkei ihren Wurzeln hatte. Um so höher waren die Summen, die der Türkei aus Europa und den USA zuflossen, um diese Unterentwicklung zu überwinden – die Südostflanke der Nato mußte stabil bleiben. 1996 trat die Zollunion zwischen der EU und der Türkei in Kraft. Trotz aller Milliardenhilfen wurde 1996 mit Necmettin Erbakan erneut ein erklärter Islamist Regierungschef, nachdem bei den Wahlen im Dezember 1995 dessen 1983 gegründete islamistische Wohlfahrtspartei (Refah Partisi/RP) stärkste Kraft geworden war. Erbakans Herrschaft währte aber nur ein Jahr: 1997 zwang das Militär den Premier zum Rücktritt, die RP wurde vom Verfassungsgericht verboten – ihre Ziele seien unvereinbar mit dem laizistischen Staatsgedanken. Nur fünf Jahre später gewannen erneut Islamisten die Wahl – diesmal in Gestalt der „gemäßigt-islamischen“ Partei für Gerechtigkeit und Wohlfahrt (AKP). Einzige Oppositionspartei ist seit 2002 die linksnational-laizistische CHP, alle anderen scheiterten an der Zehn-Prozent-Hürde. AKP-Chef Recep Tayyip Erdogan konnte zunächst nicht Premier werden, denn er war vorbestraft. 1997 hatte er bei einer Wahlveranstaltung im südostanatolischen Siirt aus einem Gedicht des 1924 verstorbenen osmanischen Poeten Ziya Gökalp zitiert: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Wer den Islam in der Türkei ersticken wolle, so drohte Erdogan damals, werde einen „explodierenden Vulkan“ auslösen. Das dem Militär verpflichtete türkische Sicherheitsgericht in Diyarbakir kannte danach keine Gnade: Der in Erbakans RP emporgestiegene Erdogan verlor seinen Posten als Oberbürgermeister von Istanbul, kam für vier Monate ins Gefängnis und wurde mit Politikverbot belegt. Erst nachdem dieses Politikverbot aufgehoben worden war, konnte der – nun nach außen gemäßigt auftretende – Erdogan 2003 vom jetzigen Außenminister Abdullah Gül das Ministerpräsidentenamt übernehmen. Trotz allem blieb die bisherige Sichtweise zur innenpolitischen Lage der Türkei stabil: Der erneute Aufstieg einer islamischen Bewegung sei nur eine Folge der Unterentwicklung des Landes – weshalb die Türkei nun in die EU aufgenommen werden sollte. Nur so könne das Land „stabilisiert“ werden. Daß Erdogans Frau in der Öffentlichkeit nur mit Kopftuch auftritt, seine Töchter in den USA studieren, weil sie dazu in der Türkei (noch) das Kopftuch abbinden müßten oder daß die Ehen seiner Kinder „arrangiert“ wurden, könnte man als Privatsache oder Fall für die Boulevard-Presse abtun. Daß Erdogan auf Druck von Brüssel Ehebruch nicht zur Straftat erklärte und das Kopftuch-Verbot an türkischen Universitäten immer noch gilt, kann als Ausdruck seiner „Läuterung“ interpretiert werden. Aber daß die AKP-Regierung erstmals ganzjährige Koran-Schulen und 15.000 neue Planstellen bei den staatlichen Moscheen ausschreiben wollte, sollte nachdenklich machen. Doch die Meinung in Westeuropa, angesichts der vielen EU-konformen Reformen sei Erdogan inzwischen ein westlicher Demokrat und seine AKP reif für die Aufnahme in die Reihen der Europäischen Volkspartei (EVP), wo auch CDU/CSU, die ÖVP oder Jacques Chiracs laizistische UMP sitzen, irrt gewaltig. Die politisch sichtbare islamische Bewegung in der Türkei, also ihr Auftreten in Form einer Partei, ist keine unmittelbare, sie wird auch nicht direkt vom Volk getragen. Zwischen dem Wahlvolk und der jeweiligen islamistischen Partei gibt es die Tarikat-Orden, die im parteipolitischen Bereich am ehesten mit den Gewerkschaften verglichen werden können. Ähnlich wie noch vor einigen Jahren im Westen waren die Gewerkschaften eine Art Vermittler zwischen der Arbeiterschaft und den jeweiligen sozialistischen/sozialdemokratischen Parteien. Diese Rolle spielen heute die strengislamischen Tarikat-Orden in der Türkei. Sie leisten soziale Arbeit bei dem wachsenden Millionenheer der Unterprivilegierten – und nicht die AKP, wie oft im Westen behauptet wird. Die Tarikat-Orden bekommen ihr Geld aus den muslimischen Öl-Staaten, in welchen die Scharia praktiziert wird. Auch Erdogan selbst ist ein Absolvent der islamistisch-orientierten Imam-Hatip-Oberschule. Es ist das „Verdienst“ Erdogans – eines strenggläubigen Muslims -, daß er die Tarikat-Orden dazu bewogen hat, „Taqiyeh“ zu üben, also den „wahren Glauben“ im Interesse der Ausbreitung des Islam vor den „Ungläubigen“ zu verbergen. Erbakan, der 1970 die erste Partei der Milli-Görüs-Bewegung (MNP) gründete, ist nicht auf diese Idee gekommen. Doch durch die Taqiyeh erreichte Erdogan zweierlei: Die ungeteilte Unterstützung der Tarikat-Orden zu gewinnen und zugleich die kemalistisch-laizistische Generalität zu beruhigen. Daraus – und aus der Wut der Wähler auf die korrupten bürgerlichen wie linken Parteien – resultierte der überwältigende AKP-Wahlsieg von 2002. Das Argument Erdogans gegenüber den Tarikat-Orden war einleuchtend: Hinter der Taqiyeh kann die Türkei EU-Mitglied werden. Als EU-Mitglied könnte aber die Türkei – zumal als letzter Träger des Kalifats – zum Sprecher und Beschützer der Muslime in ganz Europa werden. Die islamische Umma, die Gemeinschaft aller Muslime, deren Einheit durch Präsident Mustafa Kemal Atatürk gespalten worden sei, lasse sich so wiederherstellen. Europäische Politiker und alle jene, die heute für die EU-Mitgliedschaft der Türkei eintreten, ahnen offenbar nicht, was die Türkei als perspektivisch bevölkerungsstärkstes Land der Union – und zugleich als Sprecher sowie Beschützer der schon jetzt 15 Millionen Muslime in Europa – bedeuten kann.
- Deutschland