Irgendwann benennt Jérôme, der kluge Bibliothekar der Aussteiger-Kommune, das zentrale Paradox ihres geheimnisvollen Gurus Bruno. „In einer Höhle zu leben und der Technologie abzuschwören, das ist so ungefähr das Modernste, was man tun kann.“ Treffer, versenkt.
Wer hat dieses Paradox nicht erlebt, als sich die grüne Avantgarde bei uns während ihres kurzen Intermezzos an der Macht mit ihren Cell-Phones und Laptops dem Weg der Deindustrialisierung verschrieben hat und das, wie immer, mit großartiger deutscher Gründlichkeit.
Doch in ihrem philosophischen Thriller „See der Schöpfung“ macht die US-Autorin Rachel Kushner klar, daß die Sehnsucht nach der Höhle nicht nur ein Phänomen deutscher Aussteiger ist, sondern auch die französischer, ja eine weltweite, genauer, eine der westlichen Überflußgesellschaften. Der Witz: Bruno, der Eremit in seiner Höhle in der südfranzösischen Guyenne, verbreitet sein linkes Apostolat per E-Mail, denn seine Tochter hat ihm eine Satellitenschüssel über dem Höhleneingang montiert.
Die Sehnsucht reicht weit hinter Rousseau zurück
Die Autorin spürt der Sehnsucht nach einem vermeintlich unschuldigen Urzustand bravourös und überaus witzig nach, die – ja auch spannend! – weit über den Philosophen Jean-Jacques Rousseau hinweg zurückreicht, denn der skurrile Bruno Lacombe dehnt sein totales „Zurück!“ um Hunderttausende von Jahren aus: Er vermutet den Sündenfall bereits in jenem Moment, als der Homo sapiens den Neandertaler ablöste.
Das alles ist natürlich irre, aber nicht irre genug, um diesem Bruno Lacombe nicht in bester französischer Denktradition höhere intellektuelle Weihen zu verleihen in seinem Kreis von Anhängern, allen voran Pascal, sein treuester Jünger in der Landkommune „Le Moulin“, und ebenso die anderen „Moulinarden“.
In diese reichlich verlotterte Aktivistengruppe schleust sich die abgebrühte ehemalige FBI-Agentin Sadie ein. Im Auftrag privater Geldgeber soll die 34jährige die Kommune zu einem terroristischen Anschlag verleiten, der es den Behörden erlaubt, diese auszuheben und zu verhaften.
Die Hauptfigur ist Hackerin
Sadie ist hübsch, sportlich und hochintelligent, aber natürlich wäre sie eine langweilige Protagonistin, wenn sie lediglich skrupellos wäre: Sie ist empfänglich und neugierig genug, um auch der wirren Theorie jenes Bruno Lacombe mit einer gewissen Faszination zu folgen.
Sie hackt sich in dessen E-Mail-Kontakt mit Pascal ein, eines Pariser Bürgersöhnchen aus dem 6. Arrondissement, der wiederum engster Buddy des Filmemachers Lucien ist, eines ebenso verwöhnten Adepten des radikalen Kino-Erneuerers Jean-Luc Godard.
Ein Spiel über Bande: Sadie macht sich an Pascal und seine mißtrauische Landkommune über diesen besten Freund Lucien heran, den sie sich mit dem erobert, was sie selbst „einen kalten Aufriß“ nennt – sie bewundert ihn, während er in irgendeiner Kneipe einen Flipperautomaten bearbeitet. Später ekelt sie sich regelrecht über seine anhängliche Waschlappigkeit besonders im Bett, aber Job ist nun mal Job.

Und schon ist sie im inneren Zirkel der Verschwörer gelandet
Da ist der schöne René aus der Kommune doch ein anderes Kaliber. Ihm beugt sie sich wortlos und mit sanftem Nachdruck seinerseits zum Cunnilingus über den Schritt.
Aber da ist sie schon, inkognito als amerikanische Übersetzerin und Forscherin, im Innersten Kreis der Verschwörer gelandet, die eine Protestaktion auf einer Landwirtschaftsmesse planen, auf der ein hochrangiger Pariser Bürokrat in Begleitung des Schriftstellers Michel Thomas erscheinen soll.
Wie vergnüglich sich das liest, und wie aktuell es ist. Denn Kushner selbst begibt sich wie eine Höhlenforscherin in die gedanklichen Labyrinthe gerade gängiger Weltuntergangsphantasien, die es für ausgemacht halten, daß wir als Gattung „führerlos mit steigendem Tempo in den Abgrund“ rasen.
Auch eine Karikatur von Houellebecq taucht auf
Und man begegnet Bekannten: Michel Thomas zum Beispiel („schüttere Haare, Prothese“) ist eine Karikatur Michel Houellebecqs; überhaupt marschieren hier wie in einer körnigen Filmkopie neben Godard die Häuptlinge der französischen Intellektuellenszene durchs Bild, neben Houellebecq etwa der Salonradikale Bernard-Henri Lévy, während sich Höhlenmensch Bruno Lacombe als Schüler des Situationisten und Antikapitalisten Guy Debord definiert. Der hatte in den Vor-Achtundsechziger-Tagen mit der Schrift „Die Gesellschaft des Spektakels“ mit großartigen Verweigerungsgesten („Arbeitet nie!“) für Furore gesorgt, hatte allerdings seine Alle-sind-gleich-Utopie durch ein herrschaftssüchtiges Auftreten in Permanz konterkariert.
Wir lernen viel über die französische Avantgarde und ihre Theorie-Architekturen, die sich ständig viel zu ernst nehmen, sowie über die „Cagots“ genannten Neandertaler-Nachkommen, über Sternenbilder wie den Großen Bären, über Höhlenmalereien – und über den luziden Irrsinn der Totalverweigerung.
Seit den 1970er Jahren ist derlei nicht mehr geschildert worden
Und wir erfahren Details aus dem Leben Célines, des großen Autors und ebenso großen Antisemiten, denn Sadie findet im Haus Luciens – er ist mit Dreharbeiten in Spanien beschäftigt – eine Biographie über ihn, in der sie blättert.
Wie Rachel Kushner hier einen durchaus spannenden Plot vorantreibt und gleichzeitig im bisweilen spöttischen Tonfall einer amerikanischen Pragmatikerin die französischen Hochseil-Intellektuellen entblättert und beide Stränge virtuos verknüpft, ist ein Lese-Spaß seltener Art. Seit T.C. Boyles Roman „Drop City“ über das Leben einer Hippie-Kommune im Kalifornien der frühen 1970er Jahre ist der Zusammenstoß von radikalisiertem Idealismus und harter Realität nicht mehr so lebendig vor Augen geführt worden.
Das Buch ist erschreckend aktuell
Wie aktuell Kushners philosophischer Krimi über Umweltterroristen tatsächlich ist, zeigte sich jüngst während der Preisverleihung bei den Filmfestspielen in Cannes. Da mußte die Notstromversorgung aktiviert werden, weil Unbekannte drei Beine eines Hochspannungsmasts abgesägt hatten – offenbar fehlte die Zeit für das vierte Bein, die Aktion mußte abgebrochen werden.
Eine Umspannstation allerdings konnte lahmgelegt werden. Darüber hinaus hatten Aktivisten im nahen Nizza einen Transformator abgefackelt, 55.000 Haushalte sowie der Flughafen waren betroffen, Ampeln fielen ebenso aus wie Geldautomaten. Sind die „Moulinarden“ noch aktiv?
Sadie übrigens bleibt von ihrem Abenteuertrip in den systemfeindlichen Untergrund nicht unberührt, und das auf überraschend sanfte Art. Das allerdings soll hier als grandiose Pointe nicht verraten werden.