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Sinnkrise: Die Kirchen leiden an sich selbst

Sinnkrise: Die Kirchen leiden an sich selbst

Sinnkrise: Die Kirchen leiden an sich selbst

Das Bild zeigt eine spärlich besuchte Kirche in Deutschland.
Das Bild zeigt eine spärlich besuchte Kirche in Deutschland.
Sowohl die evangelische, als auch die katholische Kirche verlieren seit Jahren Mitglieder Foto: picture alliance / Eibner-Pressefoto | Fleig / Eibner-Pressefoto
Sinnkrise
 

Die Kirchen leiden an sich selbst

Austritte in Rekordhöhe und mehr Beerdigungen als Taufen – die beiden großen Kirchen hadern mit ihrer Lage. Die Gründe für das Schrumpfen der beiden Institutionen sind vielfältig. Wie konnte es so weit kommen? Ein Erklärungsversuch.
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Da hilft kein Herumreden mehr, kein Wehklagen, kein diplomatisches Beschwichtigen: Die „Volkskirche“, katholischer wie protestantischer Prägung, geht ihrem Ende entgegen: Im Jahr 2022 traten 380.000 Personen aus einer der Landeskirchen der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) aus, sie hatte damit nur noch 19,1 Millionen Mitglieder. Bei den „ökumenischen Geschwistern“, den Katholiken, stellt sich die Entwicklung noch dramatischer dar. Genaue Zahlen liegen zwar noch nicht vor, aber der Trend dürfte eindeutig sein. 2021 hatten fast 360.000 Katholiken Rom den Rücken gekehrt – ein deutscher Rekord. 

Der Text zeigt die genaue Anzahl von Kirchenaustritten in Deutschland.
Die Kirchen in Deutschland sind seit Jahren auf dem Rückzug Foto: JF

Die Erschütterungen durch immer neu bekanntgewordene Mißbrauchsaffären, soviel weiß man schon, werden die Austrittszahlen weiter nach oben schnellen lassen. Christen beider Konfessionen müssen sich bald auf eine Diasporasituation einstellen. Aber läßt sich allein mit Verweisen auf Mißbrauchsaffären und andere Skandale die dynamische Abwärtsentwicklung begründen? Das wäre ein Fehlschluß. 

Gerade in der (vor-)österlichen Zeit gewinnt die Frage an Bedeutung: Wie wird die Kirche in Zukunft aussehen? Denn es treten immer mehr junge und jüngere Menschen aus, die wenig bis gar nicht religiös erzogen wurden. „Sie stammen aus allen Schichten“, berichtet der Religionssoziologe Detlef Pollack von der Universität Münster. Das war zum Beispiel in den siebziger Jahren noch anders. Damals verabschiedeten sich vor allem junge, hochgebildete Städter – meist aus Protest. Doch Protest allein spielt heute nicht mehr die entscheidende Rolle. Die gestiegenen Austrittszahlen lassen sich eher als Ausdruck einer zunehmend an Dynamik gewinnenden Säkularisierung deuten, als „Massenphänomen“, wie Pollack sagt. Dadurch droht das religiöse Mittelfeld zu erodieren. 

„Unsere Kirche wird demütiger und kleiner“

Parallel dazu gewinnen fundamentalistische Strömungen in beiden Großkirchen an Boden. „Volkskirche am Ende“ titelte Mitte März die Zeitschrift idea Spektrum. Sie ließ den evangelischen Pfarrer Alexander Barth, einen Experten für Gemeindeentwicklung, zu Wort kommen. Sein nüchterner Befund: Die Austrittswelle sei „überraschungsfrei“. Der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung suchte bereits nachzuweisen, daß jedes vierte Kirchenmitglied über einen Austritt nachdenkt, jedes fünfte eine solche Absicht bekunde – aus unterschiedlichen Motivlagen heraus.

Bei den Evangelischen steht das Reizthema Kirchensteuer an vorderster Stelle, bei den Katholiken ist es die „Unglaubwürdigkeit“ in den Fällen von sexuellem Mißbrauch. Ja, sagt der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, man stecke in einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise, die man größtenteils selbst verschuldet habe: „Unsere Kirche wird demütiger und kleiner“, ist der Oberhirte des Bistums Limburg überzeugt. 

Was mögen die Ursachen sein? Volkskirchliche Religion, gibt Alexander Barth zu bedenken, sei nicht wirklich gewählte Religion. Die Menschen hätten aber entdeckt, daß Glaube etwas sei, wofür man sich zu entscheiden habe: „Die Religion der Zukunft ist gewählte Religion.“ Soweit scheint man sich inzwischen einig zu sein. Es gebe kaum eine Chance, den Abwärtstrend zu stoppen – auch nicht durch opportunistische Anpassung an modernistische Themen wie Klimawandel und Migration. Durch die Assimilierungs- und Modernisierungsprozesse ist die Kirche vielen Gläubigen fremd geworden. Noch anders ausgedrückt: Der modernistische EKD-Kurs hat ein enormes Seelsorgeproblem geschaffen. 

Die EKD leidet unter Profillosigkeit

Der langjährige idea-Chefredakteur Helmut Matthies hat beobachtet, daß die Solidarisierung mit der radikalen Gruppe „Letzte Generation“ bei der Synode Ende 2022 „selbst liberale Theologen auf die Palme gebracht hat“. Die EKD, so Matthies, leide unter Profillosigkeit, der evangelikale Teil unter einer überbordenden ethischen Fixierung. Die Synode habe aber bereits 1999 genial formuliert: „Die evangelische Kirche setzt das Glaubensthema und den missionarischen Auftrag an die erste Stelle.“

Davon ist heute wenig zu spüren. „Die Kirchen werden schrumpfen, das ist klar“, kommentierte die Süddeutsche Zeitung. Es sei allerdings ein Unterschied, ob nur die Gleichgültigen austräten oder „die frustrierten, aber eigentlich hoch engagierten Christen. Diese Leute braucht die Kirche“. Doch genau diese werden verprellt. Nur noch 22,7 Prozent der Bevölkerung sind Mitglieder einer evangelischen Landeskirche. 1961 waren es noch 51,1 Prozent. Ein steiler Abstieg. „Bedrückend“ nennt ihn die EKD-Ratsvorsitzende Annette ­Kurschus. Haben die Verantwortlichen in der Leitung den Schuß gehört? 

In der EKD sind alle Reformvorhaben, die dem „Synodalen Weg“ für dieKatholiken vorschweben, seit Jahr und Tag umgesetzt. Dennoch schrumpft sie. Ihre erste Reaktion auf die Verluste ist ein bundesweiter Tauftag, da die Taufe „das Herzstück des christlichen Glaubens ist“ (Kurschus). Die Hoffnungsbotschaft des Evangeliums soll stärker ins Zentrum gerückt werden.

„Was Rom sagt, spielt offenbar kaum noch eine Rolle“

„Das Christentum“, sagt der katholische Priester und emeritierte Erfurter Professor Eberhard ­Tiefensee, habe doch nicht primär die Aufgabe, die Volksmoral zu heben: „Wir Christen sollen Salz der Erde sein. Salz ist Gewürz und nicht Grundnahrungsmittel … Wir sind wie bei einem Gewürz in einem Prozeß ständiger Durchmischung, in dem wir möglicherweise Schwierigkeiten haben, unser Eigenes wiederzuentdecken.“

Für den Salzburger Dogmatiker Hans-Joachim Sander ist das Scheitern „unaufhaltbar“. In der Herder Korrespondenz aus Freiburg zeigte sich Sander davon überzeugt, daß sich der Niedergang nur noch gestalten lasse: „Wer daher heute in der katholischen Kirche seelsorglich arbeitet, wird zeit des eigenen Berufslebens nicht mehr für eine glaubwürdige Religionsgemeinschaft einstehen können.“ Glaubwürdiges Arbeiten „vor Ort“ könne daran auch nichts ändern – so die pessimistische Prognose.

Der Dogmatiker resümiert: Für immer mehr Katholiken sei die Kirche überflüssig und ersetzbar, „und zwar auch in den gefährlichen Erfahrungen des Lebens, in denen es Menschen kalt ums Herz wird“. Auch wer in der Kirche bleibe, distanziere sich zunehmend von ihr. „Was Rom sagt, spielt offenbar kaum noch eine Rolle“, steht in Briefen, die die Kirchenbehörden erreichen. 

Das Problem ist global

Im Vatikan betrachte man die Lage in Deutschland als unangenehmen Sonderfall. Dagegen ist die deutsche Situation nur ein Ausblick darauf, was den anderen weltweit bevorsteht. Sander: „Oder glaubt jemand ernsthaft, die katholische Kirche käme anderswo glimpflicher mit dem sexuellen Mißbrauch davon als in Irland, den USA, Australien, Frankreich, Kanada, Deutschland, weil das woanders alles nicht so schlimm ist?“ 

Denn auch dieses Faktum verdient Beachtung, wird allerdings meist ignoriert: In Deutschland ist der Kirchenaustritt ein ordentlicher bürokratischer Vorgang, registriert bei einer Behörde. In anderen europäischen Ländern ist das nicht so, dort merkt man die zunehmende Distanzierung von der Kirche höchstens beim Rückgang der Zahl der regelmäßigen Gottesdienstbesucher. Die überkommene Bindung an die Kirchen verdunstet auch dort. 

JF 14/23

Sowohl die evangelische, als auch die katholische Kirche verlieren seit Jahren Mitglieder Foto: picture alliance / Eibner-Pressefoto | Fleig / Eibner-Pressefoto
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