Hochschwanger und mit ihrem zwei Jahre alten Sohn Udo auf dem Arm läßt Hilde Neumann am 21. Januar 1945 ihre oberschlesische Heimatstadt Skotschau zurück. Sie flieht vor der Rache der Roten Armee über Böhmen und Mähren nach Österreich zu Verwandten, ehe sie im Sommer 1946 in Elm bei Bremervörde ihren Mann Karl wiederfindet. 1951, nach vielen Jahren der Unsicherheit, baut sich die junge Familie im hessischen Gießen ein neues geordnetes Leben auf.
Die Biographien deutscher Flüchtlinge und Vertriebener wie der der Neumanns zugänglich zu machen für die heutigen Generationen – dank Hunderter Briefe aus dem Nachlaß der Familie –, ist eine der wesentlichen Aufgaben des Oberschlesischen Landesmuseums im nordrhein-westfälischen Ratingen. Entgegen dem, was Name und Standort nahelegen, hat das Haus weit mehr als nur regionale Bedeutung: Es handelt sich um das wichtigste Museum für die Geschichte und Kultur Oberschlesiens in Deutschland. Wie lange das allerdings noch so sein wird, weiß derzeit niemand. Denn um die Zukunft des Museums ist ein Streit entbrannt. Ein Streit, der vor allem die CDU betrifft.
Auslöser ist der Plan der CDU-geführten Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, den aktuellen Standort Ratingen zum Ende dieses Jahres aufzugeben und das Oberschlesische Landesmuseum in das deutlich größere Ruhr Museum in Essen zu integrieren. Die Befürworter dieses Plans halten den Umzug aus wirtschaftlichen Gründen für notwendig. Zudem ließe sich am prominenten Standort in Essen ein erheblich breiteres Publikum erreichen, argumentieren sie. Die Gegner indes halten bereits die Umschreibung als „Umzug“ für irreführend. Für sie ist der Plan gleichbedeutend mit der Schließung des Oberschlesischen Museums.
In NRW ist die CDU für die Schließung, im Bund dagegen
Zum Lager der Gegner gehört pikanterweise die Bundestagsfraktion der CDU/CSU. Die schrieb bereits im August 2024 einen Brief an die NRW-Landesregierung, konkret an die dortige CDU-Kulturministerin Ina Brandes, und kritisierte deren Plan, den Standort in Ratingen aufzugeben. Es wäre ein denkbar schlechtes Zeichen, wenn „ausgerechnet eine unionsgeführte Landesregierung eine traditionsbewährte Paragraph-96-Einrichtung schließt“, warnte die Fraktion laut einem FAZ-Bericht. Gemeint war Paragraph 96 des Vertriebenengesetzes, der den Staat zur Pflege des Kulturguts der deutschen Vertriebenen verpflichtet. Bund und Länder haben entsprechende „Archive, Museen und Bibliotheken zu sichern“, heißt es dort unter anderem. Auf der Basis des Paragraphen 96 fördert das Land Nordrhein-Westfalen das Oberschlesische Landesmuseum aktuell mit rund 800.000 Euro pro Jahr.
Dem Bericht zufolge ließ sich Kulturministerin Brandes von der Warnung ihrer Parteikollegen aber nicht beirren. In ihrer Antwort an die Bundestagsfraktion habe die Ministerin erklärt, die Kulturpflege der Oberschlesier bleibe ein wichtiges Anliegen des Landes Nordrhein-Westfalen. Es habe „sich jedoch leider gezeigt, daß der aktuelle Museumsstandort in Ratingen dafür nicht geeignet ist“.
Richtig ist allerdings auch, was ein Sprecher des Kulturministeriums auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT betont: „Die Landesregierung entscheidet nicht über den Standort des Oberschlesischen Landesmuseums, sie fördert ausschließlich den Betrieb.“ Die Entscheidung über die Zukunft des Museums liege „ausschließlich“ bei dessen Trägerstiftung, der Stiftung Haus Oberschlesien.
Angeblich will der Bund das Museum jetzt finanzieren
Doch dort herrscht ebenfalls Uneinigkeit darüber, was künftig mit dem Museum geschehen soll. Während der Vorstand der Stiftung am 14. Juli 2025 mit einer knappen Mehrheit von 3:2-Stimmen für den Umzug nach Essen und damit die Schließung des Standorts Ratingen votierte, beschloß der Stiftungsrat am Dienstag vergangener Woche, den Vorstandsentscheid rückgängig zu machen und den Museumsbetrieb am Standort Ratingen fortzuführen.
In dem Beschluß, der der JF vorliegt, verweisen die Stiftungsratsmitglieder auf einen Besuch des CDU-Bundestagsabgeordneten Klaus-Peter Willsch, der als Vorsitzender der Gruppe der Vertriebenen, Aussiedler und deutschen Minderheiten seiner Fraktion fungiert. Willsch reiste kürzlich mit weiteren CDU-Vertretern aus dem Bundestag nach Ratingen, nahm an einer Führung durch das Museum sowie an einer gemeinsamen Sitzung des Vorstands und des Stiftungsrats teil und signalisierte, der Bund könne sich an der Finanzierung des Museums beteiligen. Nach JF-Informationen geht es um einen einmaligen Betrag in Höhe von 900.000 Euro, mit dem eine neue Dauerausstellung finanziert werden soll.
„Fundamental wichtig für die Nachkommen der Vertriebenen“
Neben der in Aussicht gestellten Finanzierung durch den Bund führt der Stiftungsrat in seinem Beschluß zwei weitere Gründe für einen Verbleib des Museums in Ratingen an. So sei zum einen „zuletzt deutlich geworden, daß weder die finanzielle Situation der Stiftung problematisch ist noch akuter kurz- oder mittelfristiger Sanierungsbedarf an den Immobilien (Museumsgebäude, Stiftungsgebäude) besteht“. Zum anderen habe die Landesregierung klargestellt, das Museum auch weiterhin mit 800.000 Euro jährlich zu finanzieren, wenn sich die Stiftung gegen den Umzug nach Essen entscheidet.
Ebenfalls für einen Verbleib in Ratingen setzt sich das Vorstandsmitglied Lutz Budraß ein. Der Historiker von der Ruhr-Universität Bochum legt gegenüber der JF dar: „Es gibt mehr als eine Million Menschen in Nordrhein-Westfalen, die in erster oder zweiter Generation aus Oberschlesien stammen und das Trauma des Heimatverlusts bewältigen müssen.“
Die Annahme, das Trauma der Vertreibung sei nach 80 Jahren abgebaut, hält er für einen fatalen Irrtum und bekräftigt: „Institutionen wie das Oberschlesische Landesmuseum haben eine fundamental wichtige Funktion für die Identitätsbildung der Nachkommen der Vertriebenen und Aussiedler.“ Darüber hinaus nehme das Oberschlesische Landesmuseum seit 1990 eine zentrale Rolle in den deutsch-polnischen Beziehungen unterhalb der Regierungsebene ein. Das Museum „sorgt für einen lebendigen Austausch mit Oberschlesien, mit der dortigen deutschen Minderheit, aber auch mit polnischen Institutionen“, führt der Historiker aus.
Der Museumsdirektor kritisiert den geplanten Umzug
Ähnlich kritisch zum geplanten Umzug nach Essen äußert sich der Direktor des Oberschlesischen Landesmuseums, David Skrabania. „Hier in Ratingen haben wir eine Ausstellungsfläche von etwa 1.600 Quadratmetern. Etwa 800 Quadratmeter davon stehen für unsere Dauerausstellung auf zwei Ebenen zur Verfügung“, schildert er im Gespräch mit der JF. „Im Ruhr Museum in Essen hätten wir keine Ausstellungsfläche mehr. Statt dessen stünden uns dort lediglich 300 Quadratmeter in einem Schaudepot zur Verfügung, das sich über einen Kilometer entfernt vom Ruhr Museum befindet.“
Die Exponate in diesem Schaudepot könnten lediglich am Wochenende besichtigt werden. „Und es handelt sich dabei um eine reine Präsentation, nicht um eine Ausstellung. Es gibt kein museales Konzept. Und wer verirrt sich schon in ein Schaudepot?“ Weiter beklagt der Museumdirektor: „Wird unser Museum in das Ruhr Museum eingegliedert, könnten wir keine eigenständige Programmarbeit mehr betreiben, welche bei einem Museum immer die Ausstellungen zur Grundlage hat. Das heißt: Ob und inwiefern oberschlesische Themen vorkommen, liegt allein in den Händen des Ruhr Museums.“
Zudem könnten im Schaudepot des Ruhr Museums gerade einmal 20 Prozent der Ratinger Ausstellungsobjekte untergebracht werden. Was mit den anderen 80 Prozent passieren soll, etwa mit Großobjekten wie einem Zugwaggon, dem Förderrad eines Bergwerks oder einer Glocke aus dem Jahr 1492, sei unklar, moniert Skrabania. Gesichert sei im Falle eines Umzugs immerhin die Zukunft der Mitarbeiter, die gegenwärtig am Standort Ratingen tätig sind. Das Ruhr Museum würde alle übernehmen, sagt der Museumsdirektor. Er selbst bekäme in Essen wahrscheinlich den Status eines wissenschaftlichen Mitarbeiters.
Der Vorstandschef der Trägerstiftung befürwortet den Umzug
Den Vorstandsvorsitzenden der Trägerstiftung, Sebastian Wladarz, der zugleich für die CDU im Stadtrat von Ratingen sitzt, überzeugen die Argumente der Gegner nicht. Er hält den Wechsel nach Essen nach wie vor für den besten Weg, macht er gegenüber der JF deutlich.
So sei es etwa entgegen der Darstellung des Stiftungsrats vollkommen offen, ob sich der Bund an der Finanzierung des Museums beteiligen werde. „Die Delegation um Klaus-Peter Willsch hatte bei ihrem Besuch vor Ort weder einen Regierungs- noch einen Fraktionsbeschluß in der Tasche“, merkt er an. „Schon gar nicht konnte die Delegation finanzielle Zusagen in halbwegs konkreter Größenordnung auf den Tisch legen. Es war nicht einmal klar, wie man sich überhaupt eine Finanzierung vorstellt, zumal das Land Nordrhein-Westfalen eine Kofinanzierung kategorisch ablehnt.“
Ferner stecke die Stiftung – anders als es der Stiftungsrat darstellt – sehr wohl in finanziellen Schwierigkeiten. „Perspektivisch ergibt sich im Stiftungshaushalt eine Unterdeckung von etwa 23.000 Euro, und es fehlen etwa 27.500 Euro für die Instandsetzungsrücklage der Immobilien“, gibt Wladarz an. Im Haushalt für das Museum sei bereits jetzt „der Ausstellungsetat praktisch nicht mehr vorhanden“, da die Personalkosten (knapp 600.000 Euro) einen Großteil des Gesamtetats (803.000 Euro) aufzehrten. „Die nächste Tarifsteigerung bricht uns womöglich das Genick“, warnt der Vorstandsvorsitzende.
Eine Entscheidung fällt in den nächsten zwei Wochen
Den Umzug ins Ruhr Museum betrachtet er als große Chance für alle Oberschlesier. Während sich die jährliche Besucherzahl in Ratingen auf etwa 6.000 pro Jahr belaufe, kämen in Essen jährlich rund 250.000 Besucher. „Wir haben dort mit einem Big Player die Chance, eine dauerhafte Präsentation zu etablieren und Oberschlesien in die neue Dauerausstellung einzubauen, die 2029 fertig werden soll“, unterstreicht er. Überdies soll die oberschlesische Geschichte im Falle eines Umzugs nicht nur in Essen, sondern ebenso in einer Ausstellung im Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf thematisiert werden. „Im Endeffekt“, faßt Wladarz zusammen, „bekämen wir mit dem Umzug mehr Oberschlesien und nicht weniger.“
Ob er sich mit dieser Sichtweise durchsetzen kann, hängt nun von seinen vier Kollegen im fünfköpfigen Vorstand ab. Diese müssen entscheiden, ob sie bei ihrem Beschluß vom Juli bleiben und den Umzug nach Essen bestätigen oder ob sie dem Votum des Stiftungsrats folgen und nun doch für einen Verbleib in Ratingen stimmen. Fest steht zweierlei: Erstens, daß gemäß Satzung allein der Vorstand über die Zukunft des Museums entscheidet und den Stiftungsrat ignorieren kann. Und zweitens, so kündigt es Wladarz an, daß der Vorstand seinen Beschluß in den kommenden zwei Wochen treffen wird.
Zuvor soll es nach Informationen dieser Zeitung allerdings noch ein Treffen zwischen der Landesregierung und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geben. Kulturministerin Brandes und Vertriebenen-Vertreter Willsch wollen ein letztes Mal über die Zukunft des Museums beraten. Indirekt beraten sie dabei auch über die Zukunft der Familie Neumann. Zumindest über die Frage, inwiefern die Lebensläufe der oberschlesischen Flüchtlinge künftig im kulturellen Gedächtnis Deutschlands präsent sein sollen – und inwiefern nicht.





