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Kultur: Ein verkannter Satiriker

Kultur: Ein verkannter Satiriker

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Kultur
 

Ein verkannter Satiriker

Er war der Aristophanes der Kollaboration. Seine Rolle war die des mürrischen, seinen Mülleimer an die Straße stellende Armenarzt, den die Welt mit ihren Hinterhältigkeiten piesackt und ins Abseits drängt. Vor fünfzig Jahren starb der französische Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline.
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Louis-Ferdinand Céline Foto: Wikimedia Commons

Der Spannungsgehalt von Künstler- und Intellektuellenbiographien ist zumeist bescheiden. Wo die porträtierte Person fleißig ihrem Kerngeschäft nachging, hatte sie sich der Kontemplation hinzugeben. Das eigentlich Berichtenswerte aus ihrem Leben ist ein Produkt des Zufalls und der jeweiligen Zeitläufte, so wie bei jedem anderen Menschen auch. Waren diese Zeitläufte bewegt und der Protagonist in sie womöglich auch noch nennenswert verstrickt, hat der Leser derartiger Biographien Glück. Er bekommt mehr geboten als Einblicke in belanglose Privatangelegenheiten und geistige Austauschbeziehungen mit anderen mehr oder weniger prominenten Zeitgenossen.

Von besonderem Interesse sind daher nicht zuletzt Schriftsteller, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkten. Mit zwei Weltkriegen, diversen Revolutionen und Radikalismen sowie einem einschneidenden gesellschaftlichen und technologischen Wandel als Rahmen boten sich ihnen nicht nur überreichlich Quellen der Inspiration. Sie hatten zudem die Gelegenheit, selbst für etwas Partei zu ergreifen und die Konsequenzen aus dieser Entscheidung zu tragen.

Dieses Glück war auch dem 1894 geborenen Louis-Ferdinand Céline beschieden, und er hat es, im Gegensatz zu manch anderen Autoren der Epoche, mit beachtlichem Geschick geschmiedet. Eigentlich war im europäischen Geistesleben nach der mühsamen Niederringung des apokalyptischen Nationalsozialismus und seiner Verbündeten kein Platz für ausgewiesene Wortführer des Antisemitismus mehr vorgesehen.

Die großen Säuberungen überlebt

Céline jedoch hat die großen Säuberungen nicht nur überlebt. Ihm gelang es sogar, nach seiner Rückkehr aus dem mit sicherem Instinkt gewählten dänischen Exil nach Frankreich eine zweite Karriere als Schriftsteller zu begründen, deren Früchte ganz auszukosten ihm allerdings durch seinen vorzeitigen Tod am 1. Juli 1961 verwehrt wurde.

Sein Erfolg basierte dabei im wesentlichen auf der so paradoxen wie simplen Strategie, Zweifel an seiner charakterlichen Integrität zu nähren, um dadurch an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Die latente Bereitschaft des Publikums, den Autor mit den Protagonisten oder zumindest mit der Stimmungslage seiner Texte zu identifizieren, machte es ihm leicht. Einen Bardamu, der im Roman „Reise ans Ende der Nacht“ stets allein an sein eigenes Überleben denkt und unter dieser Maxime bedenkenlos alle vermeintlichen Grundsätze und Loyalitäten aufgibt, mochte man vielleicht nicht für sonderlich sympathisch halten. Man konnte ihn aber verstehen und es daher als plausibel erachten, daß er sein Fähnchen zuverlässig nach jedem neuen Wind ausrichten würde.

Entsprechend durften auch die hölzernen Bemühungen des Bardamu-Schöpfers Céline, sich zum genuin unpolitischen Schriftsteller zu stilisieren, der lediglich einen bescheidenen Beitrag zur Wiederbelebung der Literatur im Geiste der Emotionalität habe leisten wollen, zwar als fadenscheiniger Versuch aufgefaßt werden, die antisemitische Stoßrichtung seiner zwischen 1937 und 1941 erschienenen pamphletistischen Bestseller zu vertuschen. Anderseits war ihm aber dahingehend zu vertrauen, daß er aus bloßem Opportunismus diesem Selbstbild treu bleiben würde.

Subtile Überlebensstrategie

Es ist daher nicht allein einer übersteigerten Sensibilität des Publikums, sondern auch der subtilen Überlebensstrategie des Autors selbst zuzuschreiben, daß in der Auseinandersetzung mit ihm bis auf den heutigen Tag die Scheinwerfer unermüdlich auf einen Nebenschauplatz gerichtet werden. Céline als „politischen“ Schriftsteller ernst zu nehmen heißt jedoch, die in seinen Texten ausgeführte Weltsicht in ihren Konsequenzen zu unterschätzen.

Eine andere Perspektive als die des sich selbst ausgelieferten Individuums, das seinen physiologischen Bedürfnissen verpflichtet ist und sich an Sinnstiftung und Weltdeutung allenfalls spielerisch, in enger geistiger Beschränkung und von Launen getrieben versucht, gibt es in diesen nicht. Die „schöne Seele“ hat ihren Sitz zwischen den Beinen. Das Ganze, sei es die Politik, die Religion, die Gesellschaft oder das Leben überhaupt, bleibt dem einzelnen unergründlich.

Célines einzige Gewißheit ist, daß er überall auf andere stößt, die ihn ausnutzen oder gar beseitigen wollen, so wie er seinerseits nichts unversucht läßt, die anderen seinen Zielen gefügig zu machen oder sie aus dem Weg zu räumen. Wo immer höhere Zwecke beschworen werden, steht eine üble, eigensüchtige Absicht dahinter, und wer sich auf sie einläßt und für sie Opfer erbringt, hat ein unfreundliches Schicksal zu gewärtigen. Célines Protagonisten müssen sich daher keine Gedanken um ethische Normen oder politische Ordnungen machen.

Zügelloser Anarchie

Diese sind lediglich Schimären, hinter denen sich die Wirklichkeit zügelloser Anarchie verbirgt. Seinen einzigen Orientierungspunkt findet das Individuum in sich selbst. Von diesem aus kann es sich zu allem anderen, den Mitmenschen, der Politik, dem Weltganzen, nach Belieben in Beziehung setzen, je nachdem, was seine Interessen gebieten oder wonach ihm der Sinn steht.

Dieses Programm hat Céline mit Finesse umgesetzt. Seinen von ihren Marotten getriebenen und durch das Leben gestoßenen Protagonisten verleiht er eine Sprache, die keine Hemmungen kennt und alle Möglichkeiten des Jargons ausreizt. Sein Vermögen, dem Leser zu suggerieren, er nähme Anteil an (inneren) Monologen mitsamt ihren Gedankensprüngen und Pausen (ausgedrückt durch das Stilmittel der drei Punkte als Auslassungszeichen), hat immer wieder Veranlassung dazu gegeben, ihn als einen vermeintlich um Authentizität bemühten Autor in die Tradition des Realismus zu stellen.

Mit nicht geringerer Berechtigung durfte man ihn jedoch als absichtsvollen oder zumindest unfreiwilligen Satiriker begreifen, der allerdings von Anfang an auch die Befürchtung wachrief, er ziele nicht auf die konkrete zeitgenössische Gesellschaft, sondern die conditio humana insgesamt ab. 

Natur als Quelle der Erniedrigung

Es kann daher nicht überraschen, daß Céline mit seiner Literatur aus jenem Rahmen fällt, in dem er politisch gemeinhin verortet wird. Seine robuste Ideologiekritik machte auch vor jenen Überzeugungen und Werten nicht halt, die die „Rechten“ der Zwischenkriegszeit, wie nah oder fern sie dem Faschismus oder dem Nationalsozialismus auch jeweils gestanden haben mögen, für heilig hielten. Von Vaterlandsliebe oder ausgesprochener Sympathie für das unverdorbene einfache Volk und sein gesundes Empfinden ist in Célines Texten nichts zu verspüren. Die Natur spendet keine Erbauung, sie ist vielmehr Quelle der Erniedrigung.

Das Laster, die Frivolität, der materialistische Egoismus und auch die Kriminalität sind keine Symptome einer „Entartung“, die es aufzuheben gelte, sondern eine Normalität, in der man mit ein wenig Glück und Geschick immer wieder auf seine Kosten kommen kann. Es gibt keine Autoritäten, die man anerkennen müßte, wenn man nicht dazu gezwungen wäre. Der heroische Mensch ist eine tölpelhafte Witzfigur, und der Krieg, in dem dieser sich unbedingt bewähren möchte, eine Veranstaltung, der man sich tunlichst entzieht. 

Nicht allein mit seiner satirischen Unernsthaftigkeit und seinen bedingungslos desillusionierenden Botschaften, sondern auch stilistisch, mit seiner hemmungslosen Zuspitzung der Gedankenführung bis hin zur indiskutablen Groteske und seiner lustvollen Freude, die Literatur um das breite Repertoire der Gossensprache bereichern zu dürfen, bietet er kaum einen Anknüpfungspunkt zur Kollaborationsliteratur, sondern negiert das in aller Schärfe, wofür diese im wesentlichen stand. Da er faktisch gleichwohl ihr zuzurechnen ist, mag man sich damit behelfen, ihm in ihr die Rolle eines Aristophanes zuzuweisen.

An dieser Rolle hat er auch nach dem Krieg festgehalten und dabei akribisch sich selbst als Kunstfigur erschaffen. Der mürrische, seinen Mülleimer an die Straße stellende Armenarzt, den die Welt mit all ihrer Hinterhältigkeit piesackt und ins Abseits drängt, ist das comicartige Bild von Céline, das heute präsent ist. Auch auf diesem Gebiet der Selbstinszenierung hat er im übrigen Maßstäbe gesetzt: Selten hat ein Schriftsteller so penetrant lamentiert, er würde verfolgt und totgeschwiegen – und ist zugleich derart beachtet und erfolgreich gewesen.

JF 27/11

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