Das muß man Gregor Gysi lassen: Im Gegensatz zu anderen Politikern muß er in seinem Nebenjob tatsächlich arbeiten. Er moderiert nämlich einmal pro Monat die Matinee „Gregor Gysi trifft Zeitgenossen“ im Deutschen Theater in Berlin. Diesmal saß ihm der Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief gegenüber, der moderne Fitzgeraldo. Wie der einst eine Oper im brasilianischen Regenwald errichten ließ, plant Schlingensief ein Festspielhaus in Afrika, ein „Bayreuth aus Lehm“ gewissermaßen. Ein enormer Kraftakt, ist der Künstler doch 2008 schwer an Lungenkrebs erkrankt und insoweit krasser mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert als im Alltag üblich.
In der Tat bot Schlingensief wieder geballte Lebensenergie, ließ das Publikum daran Anteil nehmen. In pointenreichen Formulierungen erzählte er von seiner behüteten Kindheit als Apothekersohn. Die erhielt ihren Riß durch einen Super 8-Film, den der Vater versehentlich zweimal belichtet hat. Plötzlich kamen Dinge zusammen, die eigentlich nicht zusammengehörten. Das hat beim kleinen Christoph Interesse für eigenwillige Assoziationen und die „Doppelbödigkeit“ menschlicher Existenz geweckt. Nach abgebrochenem Studium der Geisteswissenschaften drehte er 1983 den abendfüllenden „Film als Neurose“, in dem Eskimos mit der Vorführung von Avantgarde-Filmen gefoltert werden. In der Tat glaubt der Regisseur, daß der Tod die absolute Avantgarde sei. Denn Avantgardisten wollten sich nicht wirklich mitteilen, nicht die Einsamkeit durchbrechen. Aber die absolute Einsamkeit – das ist der Tod.
Seine Brötchen verdiente der Avantgardist jedoch als Kamera-Assistent bei „Dr. Faustus“ (1981, Regie: Franz Seitz) und als 1. Aufnahmeleiter bei der legendären „Lindenstraße“. Nach dem Mauerfall entstand die „Deutschland-Trilogie“: „100 Jahre Adolf Hitler“, „Terror 2000“ und „Das deutsche Kettensägenmassaker“. Letzteres handelt von Mitteldeutschen, die nach dem Mauerfall den Westen erkunden wollten. „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“, lautet der Untertitel. „Jetzt beginnt der Markt!“ schreit der westdeutsche Schlachter bei der Portionierung mitteldeutscher Landsleute.
Im Hitler-Film interessiert sich Schlingensief für das Böse, für das „Doppelbödige“, das Rätsel des Henkers. Niemand kennt sich selbst. Wer kann wissen, ob er während der NS-Zeit nicht auch Gewehr bei Fuß gestanden hätte? Schlingensief ist sich da gar nicht sicher, kennt die Faszination des Dunklen. So in Veit Harlans Film „Opfergang“, von dem er ein Remake – „Mutters Maske“ – drehte. Ohnehin ist ihm die Verkrampfung politisch korrekter Diskurse verhaßt.
Wenn Schlingensief erzählt, macht er eine Performance, gibt den Entertainer. Als er über seine Arbeit am Bayreuther „Parsifal“ berichtet, äfft er alle Mitglieder des Wagner-Clans karikierend nach. Das Publikum brüllt vor Lachen. Erst im letzten Viertel, als Gysi die Krankheit thematisiert, wird es ernst. Derzeitig hält ein Medikament den Krebs in Schach. Aber keiner weiß, wie lange. In dieser schweren Zeit begann der Katholik Schlingensief seine Meister-Eckhart-Lektüren. Der vermittelte ihm die Idee eines „Hypergottes“, der auch Atheisten umfasse. Zudem habe die Musik für ihn wachsende Bedeutung erhalten. Aus dem Kontext erklärt sich sein Projekt eines Opern-Festspielhauses in Afrika, das auch eine Schule sowie ein Krankenhaus enthalten soll. Schließlich hänge Musik mit Krankenheilung eng zusammen. Deshalb hätten frühere Ärzte ihren Patienten zum Teil „Chöre zur Heilung“ verschrieben. Umgekehrt können die Europäer in dieser Begegnungsstätte die rettende Intensität afrikanischer Spiritualität erfahren (www.festspielhaus-afrika.com). Der Grundstein wurde jetzt gelegt.
Man verläßt das zweistündige Gespräch mit großer Erleichterung. Denn hier befreit sich jemand erfolgreich von seiner Angst – jeden Tag aufs neue. Das überträgt sich.