Die Liebe kommt in der natürlichen Evolution nicht vor, behauptet der bekannte Popularphilosoph R. D. Precht in seinem neuen Buch „Liebe. Ein unordentliches Gefühl“ (Goldmann Verlag, München 2009, 320 Seiten, 19,95 Euro). Die Liebe sei ein exklusiv kulturelles, allein der Menschheit vorbehaltenes Seelenkonstrukt. Und mehr als das: Sie sei ein reines Luxuswesen, in vieler Hinsicht ein Störfaktor im sozialen Leben, unordentlich, eben ein „unordentliches Gefühl“.
Nun müßte an sich auch Precht schon aufgefallen sein, daß nicht nur die Liebe, sondern alle Gefühle unordentlich sind. Genau das unterscheidet sie ja von mathematischen Formeln oder militärischen Marschbefehlen. Man kann sie nicht eindeutig definieren, nicht einmal umfassend beschreiben. Man kann sie höchstens mit Worten umkreisen, wobei sich im Falle der Liebe die Sprache oft genug selbst in den Netzen der Liebe verfängt. Diese ist immer Herrin, nie Dienerin, immer Subjekt, nie Objekt.
Für Precht läßt sie sich leicht und kühl unter dem Stichwort „Romantik“ abheften, und unter Romantik versteht er nichts weiter als Gefühlsrausch, Verwirrung der Gefühle, vor allem aber Illusion. Liebende machen sich angeblich dauernd etwas vor. Sie glauben, den Himmel zu erobern, und in Wirklichkeit geht es – um mit Schopenhauer zu sprechen – nur ums „Eierlegen“, allenfalls noch um ein bißchen Steigerung des eigenen Selbstwertgefühls und um ein Paar gut angewärmte Pantoffel beim Nachhausekommen.
Immerhin räumt Precht ein, daß die Liebe eine erstrangige Rolle spiele bei der Entstehung von Kunst und Literatur und bei der Herausarbeitung feinerer Sitten. Doch er bleibt dabei: Ein Naturtrieb sei sie nicht. Tiere könnten nicht lieben, weder Schimpansen noch Delphine, noch Papageien. Der Natur, dem Leben an sich, sei die Liebe völlig fremd. Es gebe in der Natur keine Mutterliebe, nur Jungenaufzucht, keine Nächstenliebe, nur Gruppeninteresse, keine Eifersucht, nur Platzhirschgeilheit usw.
Gewissen Theologen mag solche strikte Trennung sehr zupaß kommen, führen sie doch all die genannten Liebesformen auf die Gottesliebe als den einzig denkbaren Liebesquell zurück. Und die Gottesliebe sei den Menschen vorbehalten, denn allein sie glaubten an Gott (und an den Teufel), allein sie hätten vom Baum der Erkenntnis gegessen und wüßten zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Wer dazu nicht in der Lage sei, der könne weder lieben noch eifersüchtig sein.
Pankraz ist kein Theologe und mißtraut auch den allzu scharfen Unterscheidungen. Er betrachtet das Leben und registriert, in welch unendlicher Vielfalt sich hier die Körper zueinander finden und wie aus ihrer Vereinigung immer wieder neues Leben entsteht und sich durch die Zeiten fortpflanzt. Hat das wirklich nichts, überhaupt nichts mit der Liebe zu tun? Oder meldet sich da nicht vielmehr eine universale Kraft, die die Doppelung und das Zueinananderstreben des Getrennten und ihre Erinnerung dringend braucht, um sich zu entfalten und „Welt“ zu schaffen?
Mag sein, das ist noch nicht Liebe im Sinne hochgezüchteter Poeten und Bildhauer, indes, die Sehnsucht ist schon da, die Urgewalt, die sich gegebenenfalls über alles bereits Gewordene und „Ordentliche“ hinwegsetzt, der Eros also, der den Logos überrollt und zeitweise ausschaltet, um sich am Ende doch wieder mit ihm zu vereinen und neue, dauerhafte Formen des Lebens hervorzubringen. Eros aber heißt Liebe.
Sämtliche Lebensformen sind von Eros erfüllt, spüren ihn, folgen ihm, leiden an ihm. Leib und Seele lassen sich nicht säuberlich voneinander trennen. Noch in der primitivsten erotischen Vereinigung lebendiger Körper sprüht ein Funke von Bewußtsein, sei es als Triumphieren, sei als Erleiden. Und noch in der raffiniertesten Reflexion über die Liebe rumort der ganz originäre Eros, des Chaos Sohn. Man kann das als „unordentliches Gefühl“ ironisieren, wegräumen kann man es nicht.
Hervorragende Metaphysiker wie Jakob Böhme und der alte Schelling haben darüber nachgedacht. Die Liebe, so lehrten sie, ist der „Urzufall“, welcher Gott (oder dem Anfangsprinzip oder dem Nichts) zustieß, noch bevor er irgendeinem begrenzten lebenden Wesen zustoßen konnte. Vor dem Urknall kam der Urzufall. Gott langweilte sich gewissermaßen in seiner erhabenen Einsamkeit, und so verdoppelte er sich, schuf sich Zweisamkeit, erschuf Eros – und brachte damit die Welt in Gang, in all ihrer Vielfalt und manchmal tödlicher Widersprüchlichkeit.
Jedes liebende Wesen hat teil an diesem originären Geschehen. In jedem Akt körperlich-seelischer Vereinigung spiegelt sich diese Gottesliebe ab, auch in den beiläufigsten und kuriosesten. Denn es stimmt ja: Die Liebe ist unordentlich, verströmt sich in tausend und abertausend Formen und Antiformen, „höret nimmer auf“, mündet oft genug in den Todestrieb, wo die Sehnsucht nach totaler Vereinigung und Rückkehr ins Eine jede Form von Zweisamkeit in schrecklichster Weise auseinandersprengt.
Es besteht durchaus die soziale Notwendigkeit, die Liebe zu pazifizieren, sie mit den Erfordernissen einer friedlich funktionierenden Gesellschaft kompatibel zu machen, ihre Exzesse und Antiformen einzuhegen, auch mit Sanktionen zu bedrohen und eventuell zu bestrafen. Besonders in Zeiten wie der gegenwärtigen wäre das nötig, wo die Medien faktisch nur noch die Exzesse und Antiformen herausstellen und sie geradezu feiern und mit einer Gloriole versehen.
Ob allerdings Bücher wie „Liebe. Ein unordentliches Gefühl“ die richtigen Mittel zur Einhegung und Pazifizierung liefern, darf bezweifelt werden. Der von Precht angeschlagene Ton, diese Mischung aus drolliger Schnöseligkeit und putziger Besserwisserei, ist genau der falsche. Er kappt das Phänomen der Liebe gerade um das, worauf es ankommt, und reitet auf dem Rest herum wie auf einem Schaukelpferd. So erzieht man keine Liebenden, so erzeugt man Spießbürger.