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Nur 46 Haftstrafen

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Das Thema „Deutsche Einheit und ihre vermurksten Folgen“ läßt die beiden Journalisten nicht los. Uwe Müller, Reporter der Zeitung Die Welt, veröffentlichte vor vier Jahren den „Supergau Deutsche Einheit“. Seine Kollegin Grit Hartmann hatte sich schon früher mit dem Buch „Goldkinder. Die DDR im Spiegel ihres Spitzensports“ einem Thema gewidmet, das sie auch in dieser Veröffentlichung wieder aufgreift: Hochleistungssport und Doping. Diesmal sorgen sich die beiden Autoren um den Einfluß, den DDR-Kader noch immer oder schon wieder ausüben. Dabei schauen sie nicht nur nach Osten. Ihnen geht es auch und gerade um Helfer oder gar Komplizen im Westen. Dies verleiht dem Buch eine Brisanz, die über die übliche Enttarnung von Stasi-Spitzeln hinausgeht.

Zuerst geht es um die juristische Ahndung von DDR-Staatsverbrechen. Sie begann bereits kurz nach dem Bau der Mauer 1961 durchaus verheißungsvoll. In Salzgitter wurde die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen eingerichtet, deren wenige Mitarbeiter in den folgenden Jahrzehnten rund 42.000 Fälle von Verbrechen und Vergehen in der DDR mit politischem Hintergrund dokumentierten und bearbeiteten. Die bloße Existenz von „Salzgitter“ wirkte im DDR-Strafvollzug präventiv und führte nachweislich zu einem Rückgang der Mißhandlungen von Strafgefangenen durch ihre Wärter.

Nach dem Ende der DDR wären die Akten eine hervorragende Grundlage für eine strafrechtliche Aufarbeitung gewesen, die allerdings kaum genutzt wurde. In den achtziger Jahren hatte die SPD das Interesse an dieser Behörde verloren und die von ihr regierten Bundesländer nach und nach aus der Finanzierung zurückgezogen. Nach der Wiedervereinigung erlosch auch das Interesse der CDU. Immerhin stehen die 32 Kubikmeter Akten der Forschung zur Verfügung und werden vom Bundesarchiv aufbereitet. Für die unsägliche Diskussion um die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, können sie noch interessant werden.

Ansonsten ist die Aufarbeitung von politischen Straftaten in der DDR, darunter auch einige tausend Delikte mit tödlichen Folgen, kein Ruhmesblatt der Justiz – selbst wenn man berücksichtigt, daß nach 1990 ein erheblicher Mangel an Juristen herrschte und viele Straftaten zwangsläufig verjährten. Nur 46 Verurteilungen von DDR-Tätern zu Gefängnisstrafen sind wirklich eine „Nichtigkeit“. Müller und Hartmann dokumentieren sie mit Namen und Strafmaß. Demgegenüber verwundert, daß immerhin gegen Westdeutsche 64 Haftstrafen wegen Spionage für die DDR verhängt wurden. Die Autoren meinen, es wäre besser gewesen, die Mitglieder des Politbüros der SED wie anfangs vorgeschlagen wegen Hochverrats (Bruch auch der DDR-Verfassung) anzuklagen, was aber 1990 politisch nicht erwünscht war. Eine erhebliche Schuld an dem Desaster trifft auch die allzu verständnisvolle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.

Ein Trauerspiel ist die klägliche Entschädigung für Opfer der SED-Diktatur, die auch noch von wirtschaftlicher Bedürftigkeit abhängig gemacht wird. Dem steht die opulente Ehrenpension für Minister gegenüber, die nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 oft nur wenige Wochen amtierten – darunter auch einige, die wegen Zusammenarbeit mit dem MfS oder aus anderen Gründen belastet sind. Der Fall des Ministerpräsidenten Lothar de Maizière wird eingehend erörtert. Justizminister Kurt Wünsche hatte als Mitglied der Blockpartei LDP bereits unter Ulbricht für Verschärfungen im politischen Strafrecht gesorgt, darf sich aber dennoch über monatliche Überweisungen von 650 Euro freuen.

Ausführlich befassen sich die Autoren mit den Überlebensstrategien der DDR-Funktionseliten. Sie haben in CDU, SPD und vor allem SED/PDS (Linke) ihre Chancen zu nutzen gewußt. Der Unmut der Opfer der SED-Diktatur über diese Entwicklung ist verständlich. Andererseits kann niemand sagen, wie sie zu verhindern gewesen wäre. Aus dem Westen kamen nicht genügend Fachleute in die ehemalige DDR, agile und dynamische Kräfte aus dem Osten suchten noch nach 1990 ihre Chancen bevorzugt im Westen. Es war schon immer so: Bei einem Systemwechsel kann man nur mit dem vorhandenen Personal arbeiten.

Dabei darf man mit dem Opportunismus derer rechnen, die sich schon in früheren Zeiten durch Anpassungsfähigkeit ausgezeichnet hatten. Das klingt zynisch, ist aber wohl unvermeidlich. So kam auch der Präsident der Magdeburger Industrie- und Handelskammer (IHK) nach der „Wende“ zu Macht und Einfluß, obwohl er vorher dem MfS zu Diensten war, was aber ignoriert wurde. Immerhin legte Ministerpräsident Wolfgang Böhmer bei der Präsentation dieses Buches Wert auf die Feststellung, nicht er habe Klaus Hieckmann dem Bundespräsidenten zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes vorgeschlagen. Auch über den international bekannten Trompeter Ludwig Güttler liegen offenbar in der Birthler-Behörde einschlägige Erkenntnisse vor. Dennoch erhielt er sogar das Große Verdienstkreuz, nämlich für seine unbestreitbaren Verdienste beim Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche. Man möchte diese Entscheidung eigentlich nicht tadeln. Kann nicht auch eine moralische Schuld wiedergutgemacht werden?

Die Autoren haben ein wichtiges und gut lesbares Buch vorgelegt, das man nur empfehlen kann – nicht weil man ihnen immer zustimmen muß, sondern weil sie fundiertes Material für weitere notwendige Auseinandersetzungen mit der deutschen Geschichte liefern – was gerade in diesen Tagen eine große historische Brisanz beweist. Man muß im Sinne des Historikers Leopold von Ranke erst einmal zur Kenntnis nehmen, wie es eigentlich gewesen ist, ehe man abschließende Urteile fällt.

Uwe Müller, Grit Hartmann: Vorwärts und vergessen! Kader, Spitzel und Komplizen: Das gefährliche Erbe der SED-Diktatur. Rowohlt Verlag, Berlin 2009, gebunden, 316 Seiten, 16,90 Euro

Foto: Automatische Maschine zum Wiederverschließen in der MfS-Postkontrolle: Allzu verständnisvolle Rechtsprechung

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