Wer die Erinnerungen von Helmut Kohl um die Vorgänge der Wiedervereinigung liest, wird hin- und hergerissen. Hingerissen wird der Leser davon, daß Kohl die historische Stunde für eine mögliche Wiedervereinigung als einer der wenigen führenden Politiker erkannt und danach gehandelt hat. Hingerissen ebenso von dem Geschick und der Beharrlichkeit, mit der der Kanzler das Ziel der Vereinigung verfolgte, indem er ein Netzwerk der gegenseitigen Informationen und Kommunikationen zwischen den führenden Staatsmännern aufbaute und mit dem Vertrauen der Westmächte den Weg zur Einigung freimachte. Die Tatsache, daß Kohl und seine Regierung (vor allem Kanzleramtsminister Friedrich Bohl, Innenminister Wolfgang Schäuble, Finanzminister Theo Waigel) keinerlei Anstrengungen machten, den 600.000 bis 700.000 Betroffenen der zwischen 1945 und 1949 erfolgten kommunistischen Konfiskationen von betrieblichen, landwirtschaftlichen und privaten Vermögenswerten zu ihrem Recht zu verhelfen, trübt jedoch jeden Enthusiasmus. Denn dieses Recht resultiert aus den verbürgten verfassungs- und völkerrechtlichen Grundsätzen unseres Rechtsstaates sowie aus den Gelöbnissen und Versprechen der jeweiligen Bundesregierung vor 1990. Signifikant ist dafür beispielsweise die gemeinsame und einstimmige Erklärung des Deutschen Bundestages vom 7. April 1960 (103. Plenarsitzung), „die gesellschaftlichen Strukturänderungen im Machtbereich des Sowjetismus niemals anzuerkennen“. Der Bruch mit dieser Politik begann bereits Anfang März 1990 seinen Lauf zu nehmen, als die von Kohl eingesetzte Expertengruppe (Bohl, Gerster, Motsch, Kinkel, Reichenbach, Schäuble) beschloß: keine Rückgabe, keine Entschädigung bei Bodenreform- und Industrieenteignungen – und das alles vor Beginn der deutsch-deutschen und der Zwei-plus-Vier-Verhandlungsgespräche. In seinen „Erinnerungen“ kann man nach seinem Treffen mit Gorbatschow in Moskau am 10. und 11. Februar 1990 das offizielle Ergebnis dieser Besprechung lesen: „Michail Gorbatschow stellte fest – und der Kanzler stimmte ihm zu -, daß es jetzt zwischen der UdSSR, der BRD und der DDR keine Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, daß die Deutschen selbst die Frage der Einheit der deutschen Nation lösen und selbst ihre Wahl treffen müssen, in welchen staatlichen Formen, in welchen Fristen, mit welchem Tempo und unter welchen Bedingungen sie diese Einheit verwirklichen werden.“ Diese Haltung bestärkte Kohl in der Welt vom 30. März 1990: „Die innere Regelung der Vereinigung Deutschlands ist in Übereinstimmung mit Gorbatschow eine Sache der Deutschen.“ Von jetzt an begann das doppelte Spiel von Helmut Kohl. Auf der einen Seite hörte man immer wieder seine Beteuerungen, daß die Sowjetunion die volle Souveränität von Deutschland in allen inneren Fragen anerkennt. In Gesprächen – meistens mit DDR-Politikern – vertrat er aber eine gegenteilige Ansicht, zum Beispiel als im Zuge der wirtschaftlichen Krise in der DDR am 14. Mai 1990 Ministerpräsident Lothar de Maizière mit Kohl in Bonn „zu einem überaus schwierigen Gespräch“ zusammentraf, um einige grundlegende Meinungsverschiedenheiten zu klären wie unter anderem die Frage, ob in der DDR enteignete Immobilien zurückzugeben seien. Kohl erinnert sich: „Was die von der sowjetischen Besatzungsmacht zwischen 1945 und 1949 verfügten Enteignungen anging, gab es ohnehin ein klares ‚Njet‘ des Kreml: Moskau hatte am 28. April 1990 in einem Memorandum davor gewarnt, die ‚Gesetzlichkeiten der Maßnahmen und Verordnungen in Frage zu stellen, die die Vier Mächte in Fragen der Entnazifizierung, der Demilitarisierung und der Demokratisierung gemeinsam oder jede in ihrer ehemaligen Besatzungszone ergriffen haben. Die Rechtmäßigkeit dieser Beschlüsse, vor allem in Besitz- und Bodenfragen, unterliegt keiner neuerlichen Prüfung oder Revision durch deutsche Gerichte oder andere deutsche Staatsorgane‘. Das war eine sowjetische Vorbedingung für die Einheit, und das Bundesverfassungsgericht hat diese Vorgabe später bestätigt. Bezüglich der Enteignungen nach 1949 konnten wir vorerst keine Einigung erzielen, so daß dieses Thema aus dem Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ausgeklammert wurde.“ Mit dem „Memorandum“ meint Helmut Kohl das sogenannte „Aide-Mémoire vom 28. April 1990“, das dem Deutschen Botschafter Klaus Blech in Moskau und dem DDR-Außenminister Markus Meckel in Berlin überreicht wurde. Offensichtlich standen die sowjetischen Betonköpfe hinter dieser Erklärung, deren Inhalt von der Bundesregierung bis heute nicht vollständig und nicht im russischen Originaltext bekanntgegeben wurde. Zitiert wird im wesentlichen immer nur die aus dem Kontext gerissene Ziffer 3, welche als klassisches Indemnitätsbegehren zu verstehen ist; das heißt, daß das Aide-Mémoire nur die Tatsachen festhalten wollte, daß die deutsche Seite nicht befugt sei, nachträglich die Gesetzlichkeit der Maßnahmen und Anordnungen der vier Mächte in Frage zu stellen. Augenfällig in diesem Zusammenhang ist, daß Kohl nicht die vorausgegangene TASS-Erklärung vom 27. März 1990 erwähnt, die die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Parlament als unabdingbare „sowjetische Bedingung“ anführte. Inzwischen ist wahrscheinlich Kohl selbst klargeworden, daß seine Regierung diese Erklärung durch Weglassen wesentlicher Teile regelrecht gefälscht hat. Der Inhalt des vollständigen Textes der TASS-Erklärung besagt, daß die Sowjetunion die Vereinbarungen der Alliierten, gemäß Potsdamer Abkommen und gemäß Kontrollratsbeschlüssen zur Bestrafung und damit zur Enteignung von NS- und Kriegsverbrechern unangetastet sehen wollte. Aus dem verstümmelt veröffentlichten Text muß man aber schließen, daß alle Enteignungen bzw. Konfiskationen von 1945 bis 1949 gemeint sind und keinerlei Veränderung erfahren durften. Helmut Kohl führt in seinen Erinnerungen viele harte Verhandlungen mit der sowjetischen Seite in strittigen Fragen an – etwa über die Nato-Mitgliedschaft, den einseitigen Abzug der sowjetischen Streitkräfte oder den Abzug der ausländischen Streitkräfte aus Berlin. Allerdings vermißt man die angebliche Bedingung, mit der die unter sowjetischem Besatzungsrecht oder Besatzungshoheit durchgeführten Konfiskationen mit einem „klaren Njet“ belegt wurden. Mit diesem längst überholten „Njet“ vom April 1990 belog Kohl den Bundestag am 30. Januar 1991 mit folgendem Satz: „Der Fortbestand der Konfiskationen zwischen 1945 und 1949 wurde von der Sowjetunion zur Bedingung für die Wiedervereinigung gemacht. Ich sage klar: Die Einigung durfte an dieser Frage nicht scheitern.“ Später beteuert er, er habe um „eine bessere Lösung gerungen“. Diese Behauptung Kohls wird von Günther Krause – damaliger parlamentarischer Staatssekretär im Amt des Ministerpräsidenten und Verhandlungsführer der DDR -, der als Kronzeuge des Einigungsprozesses gelten darf, später widerlegt: „Ich habe in meiner eidesstattlichen Versicherung vom 10. Januar 1999 wahrheitsgemäß behauptet, daß mir von einer sowjetischen Forderung bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, wonach die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands ohne Verzicht auf die Rückgängigmachung der Enteignungen 45/49 nicht erreichbar gewesen wäre, nichts bekannt ist.“ „Es gehört bis heute zum Allgemeingut historischer Wahrheiten, daß die Sowjetunion bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen keine Forderung des Inhalts gestellt hat, wonach sie ihre Zustimmung zur Wiedervereinigung davon abhängig gemacht hätte, daß das zwischen 1945 und 1949 enteignete Vermögen nicht zurückgegeben werden darf. Michail Gorbatschow hat anderslautende Behauptungen in seiner Berliner Rede vom 1. März 1998 als ‚absurd‘ bezeichnet. In seinem Buch ‚Wie es war‘ weist er solche anderslautenden Behauptungen, die dem ehemaligen Präsidenten der UdSSR von interessierter Seite untergeschoben werden, ‚kategorisch‘ zurück. Wenn ich erklärt habe, daß mir von einer solchen Bedingung nichts bekannt war, so ist das gleichbedeutend mit der Aussage, daß eine solche Bedingung nicht existierte. Hätte sie existiert, wäre sie im damaligen Kabinett der DDR-Regierung beraten worden, zumindest hatte ich als Verhandlungsführer der DDR-Delegation davon Kenntnis gehabt. Es gab über eine solche vermeintliche Forderung jedoch weder eingehende Beratungen noch Kabinettsentscheidungen, noch Entscheidungen der DDR-Volkskammer, und zwar deshalb nicht, weil eine derartige Forderung gar nicht existierte.“ „Daß die DDR-Regierung keine Bedingungen für die Wiedervereinigung gestellt hat, wonach in Staatshand gelangtes Eigentum nicht zurückübertragen werden dürfte, ergibt sich auch aus folgenden Umständen: Die damalige Fraktion der DSU drängte in der Volkskammer auf einen Beschluß zum Beitritt. Sie brachte völlig überraschend in der Nacht zum 23. August 1990 den Antrag zum Beitritt erneut ein, und zwar ohne jeden Vorbehalt. Der Antrag wurde mehrheitlich – mit 294 Stimmen bei 62 Gegenstimmen und sieben Enthaltungen – angenommen. Die Regierung de Maizière mußte diesen Beschluß umsetzen. Sie konnte nicht irgendwelche Vorbehalte machen, insbesondere war es der Regierung natürlich verwehrt, den Beschluß der Volkskammer vom Zugeständnis der bundesdeutschen Verhandlungsseite zu irgendwelchen Bedingungen wie einem totalen Rückgabeverbot abhängig zu machen. Auch das wußte die Bundesregierung.“ „Der Volkskammerbeschluß wurde dem damaligen Bundeskanzler Kohl offiziell am 25. August 1990 mitgeteilt. Zu diesem Zeitpunkt waren die Verhandlungen zum Einigungsvertrag aber noch gar nicht abgeschlossen. Es ist somit – um mit Gorbatschow zu sprechen – absurd, wenn heute behauptet wird, die DDR-Regierung hätte die Wiedervereinigung von der Vereinbarung eines Restitutionsausschlusses abhängig gemacht oder abhängig machen wollen, geschweige denn können.“ Eine in der Öffentlichkeit kaum bekannte Protokoll-Notiz Nr. 217 über die Sitzung der „Arbeitsgruppe Innenpolitische Grundsatzfragen im Bundesministerium des Inneren an Bundesminister Schäuble in Bonn vom 13. März 1990“ unter Vorsitz von Außenminsiter Hans-Dietrich Genscher („Abgezeichnet: Sch(äuble)“) gibt ebenfalls erhellende Auskunft, auf Seite 942 ist unter anderem folgendes festgehalten: „Seitens DDR sind substantielle Fragen für die Zwei-plus-Vier-Gespräche: – Viermächterechte (…), – Grenzfrage (…), – sicherheitspolitische Fragestellungen (…), – Klärung der Eigentumsverhältnisse – wird aus westdeutscher Sicht abgelehnt, im Rahmen von Zwei-plus-Vier zu verhandeln.“ Letzteres ist ein eindeutiger Beweis dafür, daß sich Helmut Kohl nach dem nur wenige Tage zuvor gefaßten Beschluß der von ihm eingesetzten Expertengruppe – „keine Rückgabe, keine Entschädigung bei Bodenreform- und Industrieenteignungen“ – in dieser Sache von dritter Seite nicht mehr hat „hineinreden lassen“ wollen. Der Leser möge nun selbst beurteilen, ob Helmut Kohl in seinen „Erinnerungen“ die Wahrheit verkündet. Dr. Udo Madaus ist Betroffener der Enteignungen und hat dazu zwei Werke veröffentlicht (Wahrheit und Recht, Berlin 2005, Allianz des Schweigens, Berlin 2006) Helmut Kohl: Erinnerungen. 1990 bis 1994. Droemer Knaur, München 2007, gebunden, 784 Seiten 29,90 Euro Foto: Bundeskanzler Kohl und Unions-Fraktionschef Schäuble, Bonn 1993: Ohnehin ein klares Njet