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Mit offenen Augen blind

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Mit offenen Augen blind

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Eileen S. ist 18, eine hübsche, blondhaarige Gymnasiastin aus Berlin-Hohenschönhausen. Kürzlich durfte sie in der Berliner Zeitung in der Rubrik „Klartext“ eine Kolumne schreiben. Die letzte März-Woche war für Eileen eine besondere, denn „es war die bundesweite Aktionswoche gegen Rassismus, die vom Verein Gesicht zeigen! und dem Interkulturellen Rat bereits zum siebten Mal initiiert wurde“. Höhepunkt war für sie der Schulbesuch der Grünen-Vorsitzenden Claudia Roth, die sich „enthusiastisch für mehr Engagement gegen Rassismus, Antisemitismus und für eine gerechte Einbürgerungspolitik“ aussprach – für Eileen „eine gute Idee“. Nur würde eine Einbürgerungspolitik, die Claudia Roth für „gerecht“ hält, den Bevölkerungsanteil der Antisemiten raketenhaft nach oben treiben. Doch eine Achtzehnjährige muß solch Widerspruch nicht interessieren. Die Wichtigkeit von Claudia Roths Engagement erwies sich für Eileen bereits während der Veranstaltung, als ein Mitschüler den Gast „aufgebracht, fast trotzig mit der Frage konfrontierte, was die Jugend für die Verbrechen der Deutschen während des Nationalsozialismus könne und warum sie sich derer schuldig fühlen solle. Nicht nur die Politikerin mußte bei dieser Frage schlucken, auch unter den meisten Lehrern und Schülern erregte sie großes Aufsehen und rief beschämende Gefühle hervor.“ „Sowas fragt man nicht!“ zischen die Mitschüler Was sind „beschämende Gefühle“? Doch wohl Emotionen, derer man sich zu schämen hat. Wollte die Schreiberin ihre Scham darüber ausdrücken, daß nicht sämtliche Mitschüler und Lehrer dem einzigen in der Runde, der Widerspruch gewagt hat, beigesprungen sind? Hat sie heimlich Sympathie für ihn empfunden? Aus dem Kontext ergibt sich leider das Gegenteil. Sie wollte ihren Lesern mitteilen, daß die meisten Zuhörer sich schämten, weil ein Schüler aus der Rolle fiel und eine abweichende Meinung zu äußern wagte. Eine persönliche Erinnerung: An der Erweiterten Oberschule in einer Kleinstadt der DDR ist der Kreisstaatsanwalt zu Besuch. Der Verfasser nimmt all seinen Mut zusammen und erinnert in der Sklavensprache, mit der Abweichler sich tarnten, um Sanktionen zu entgehen, an die Hetzkampagnen der BRD gegen die DDR, die sich an der angeblich fehlenden Freizügigkeit entzündeten. Wie sich denn die sozialistische Gesetzlichkeit dazu verhielte? In diesem Moment wurde die Luft im Raum zu Eis, Mitschüler zischten ihn an: „Sowas fragt man nicht!“, er fühlte sich sehr einsam. Nachträglich möchte man solche Erfahrungen nicht missen, denn sie haben einen unempfindlich für falsche Mehrheitsmeinungen gemacht. Für Eileen war der Widerspruch „ein Zeichen dafür, daß es nicht reicht, die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs im Unterricht aufzuarbeiten. Vielmehr sollte man den Blick in die Zukunft nicht vergessen, denn einige Schüler scheinen nicht zu verstehen, daß es nicht um etwas Vergangenes geht, sondern um die Zukunft.“ Überschrieben ist die Kolumne: „Nie wieder kollektives Augenschließen“. Man kann allerdings auch blind sein mit offenen Augen. „Unwissende damit ihr / unwissend bleibt / werden wir euch / schulen“, schrieb Reiner Kunze vor 40 Jahren über die politische Bildungsarbeit in der DDR. Auch im Text von Eileen findet sich kein einziger Gedanke, der nur einen Millimeter von der volkspädagogischen Dauerbeschallung durch Politik, Schule und Medien abweicht. Schlimmer noch: Widerspruch, der überhaupt erst Denkprozesse in Gang setzt, empfindet sie als Bedrohung. Da würde man sich in einer Situation, in der es hart auf hart kommt, doch lieber auf ihren widerspenstigen Mitschüler verlassen.

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