Die Naivität, mit der Cineasten die Klassiker des Sowjetkinos rezipieren und dabei gleichzeitig Leni Riefenstahl verachten, ist symptomatisch für die Trägheit und Ignoranz der Filmgeschichtsschreibung in Deutschland. Man schwärmt für Filme von Dowschenko oder Eisenstein, und vergißt dabei völlig, daß ihre Propagandaklischees die Ermordung von Millionen Menschen vorbereiteten und deckten. Indessen war der sowjetische Film in seiner Blütezeit ein imponierendes, explosives Experimentierlabor, das sich nicht nur ästhetisch revolutionär ausgewirkt hat. Totalitäre Ideologie und Avantgarde gingen eine verführerische Synthese ein. Der wohl radikalste Filmemacher dieser Ära war der als Denis Kaufman 1896 in Bialystock geborene Dziga Wertow. Die Edition Filmmuseum hat einen seiner reizvollsten – und zugleich niederträchtigsten – Filme in einer von Peter Kubelka restaurierten Fassung auf DVD herausgebracht: „Entuziasm – Simfonia Donbassa“ („Enthusiasmus – Donbasser Symphonie“) aus dem Jahre 1930. Durch die Einführung des Tones in das Kino taten sich neue dramaturgische und künstlerische Möglichkeiten auf. Wertow entschloß sich, das Hören und den Ton selbst zur formalen Klammer des Films zu machen. So beginnt „Entuziazm“ ähnlich wie sein stummer Vorgänger „Der Mann mit Kamera“ (1929) mit einem selbstreflexiven Bild – eine junge Frau mit Kopfhörer sitzt aufmerksam lauschend an einem Radiogerät. Die ersten Takte der „Donbasser Symphonie“ erklingen, jäh unterbrochen durch einen dumpfen Glockenschlag und das Bild eines Kreuzes. Groß die Ohren der Frau, die Glocken läuten weiter, aber nun ist auch leise und subversiv der Ruf eines Kuckucks zu hören. Was nun folgt, ist eine legendäre Sequenz aggressiver antireligiöser Propaganda, in der Wertow betende und niederknieende Kirchgänger in Bild und Ton mit verkommenen, torkelnden Säufern vermengt, gleichsam als Illustration des marxistisch-leninistischen Dogmas von der Religion als „Opium (hier: Wodka) des Volkes“. Während nun die Kirchtürme mittels fotografischer Effekte in sich zusammenstürzen, plündern die Massen zu fröhlicher Marschmusik die Altäre und ersetzen die Ikonen durch Lenin-Bilder. Nach diesem revolutionären Sturm mündet „Entuziazm“ in eine bildgewaltige, „progressive“ Maschinensymphonie, in der es kracht, pfeift, klopft, faucht und dröhnt, als wären Throbbing Gristle oder die Einstürzenden Neubauten am Werk. Während die „enthusiastischen“, stachanowoiden Arbeiter gewaltige Hämmer niedersausen lassen, werden rhythmisch Parolen von „Ehre, Ruhm, Mut, und Heroismus“ deklamiert. Für massenwirksame Propaganda war Vertows Hymne allerdings zu komplex; Stalin und die Arbeiterheroen zogen „Cine-Wodka“, narrative Unterhaltungsfilme, vor. „Entuziazm“ ist der utopische Traum eines Intellektuellen, virtuos verwirklicht mit genuin filmischen Mitteln, die aber letztlich nicht über die Abstraktion, Flachheit und Lüge der zugrunde liegenden Ideologie hinwegtäuschen können.