Dieser Sommer der großen Hitze und der unvorhersehbaren Regengüsse zwischendurch macht uns so recht bewußt, wie weit wir Menschen in Bezug auf technische Lösungen doch der Natur hinterherhinken. Wir brauchen Regenschirme, um uns vor unwillkommenem plötzlichen Naßwerden zu schützen, an sich recht primitive Konstruktionen, die unser sommerliches Outfit arg belasten und die wir beim ersten rückkehrenden Sonnenstrahl sofort vergessen und in irgendeiner Ecke stehen lassen. Viel besser wäre es, wir wären unbenetzbar wie Lotusblumen und aller Regen perlte an uns ab wie nichts.
Wie schafft es die Lotusblume eigentlich, im Wasser zu schwimmen und dabei niemals naß zu werden – und doch auch ständig frisch und rein zu bleiben, als würde sie sich dauernd mit Supergründlichkeit waschen? Niemand weiß, welches genetische Wunder das bewirkt und wie es entstehen konnte. Die menschliche Technik für selbstreinigende Oberflächenstrukturen hinkt dem weit hinterher.
Derartige Beispiele ließen sich beliebig weiter aufzählen. Ob Kondorflügel, deren Handschwingen die Luftverwirbelung dramatisch minimieren, so daß der Vogel viel Energie spart, ob die verwehende Frucht des Wiesenbocksbarts, die jedem menschlichen Fallschirm prinzipiell überlegen ist, ob die Sonarsysteme der Fledermäuse als Super-Echolot – "Patente der Natur" gibt es unendlich viele.
Dem Kennenlernen dieser Fülle ist schon seit längerem eine eigene Wissenschaft eröffnet, die sogenannte Biomimetik oder, kürzer, Bionik. Die Bioniker gehen meistens von anstehenden Problemen in der mittleren Technik (Statik, Festkörperphysik, Wärme- und Lärmdämmung usw.) aus, für die eine optimale Lösung gesucht wird, und dabei richtet sich ihr Blick intensiv auf lebende Organismen, um von ihnen regelrecht "abzukupfern", auf Tiere, Pflanzen, Pilze, Bakterien, auch ganze Biosysteme wie z. B. Osmose.
Forscher kommen aus dem Staunen nicht heraus. Faktisch immer erweist sich, daß die Lösungen, die das Leben für parallele Probleme längst gefunden hat, von "überraschender Genialität" (Werner Nachtigall) sind, den Lösungsangeboten auch der avanciertesten Technik weit überlegen, dabei offenbar von ingeniöser Einfachheit und dennoch ästhetisch höchsten Ansprüchen genügend, schön und elegant.
Die Hautoberfläche schnell schwimmender Haiarten etwa besteht aus winzigen, dicht aneinanderliegenden Schuppen, deren jede mikroskopisch kleine, äußerst scharfkantige Rillen aufweist, welche parallel zur Strömung ausgerichtet sind und den Strömungswiderstand stark vermindern. Menschliche Technik vermag diese Schuppen nur unvollkommen mit "Riplet-Folien" nachzubauen, teuren Flugzeugaccessoires, die sich unterm Strich nicht rechnen. Bei den Haien wächst solch edle Patina "ganz von allein", und die Rillen richten sich "wie von allein" nach den jeweiligen Gegebenheiten.
Das Diagnostizieren und Registrieren derartiger Qualitäten ist die eine Seite der Bionik, das eigentliche Nachahmen die andere. Beide Bereiche erfordern ganz neuartige, intensive gegenseitige Durchdringung von praktischer Forschung und Grundlagenforschung. Es geht ja nicht nur um das Aufsuchen von Analogien und simplen Lösungsvorbildern, sondern nicht minder und in erster Linie um das Durchschauen und Vergleichen von Struktur- und Organisationsprinzipien sowohl in der lebendigen Natur als auch in der Technik.
Natürliche Lösungen verweisen fast in jedem Fall auf Ursache/Wirkungs-Verhältnisse, die selbst der modernsten Forschung bis auf weiteres rätselhaft bleiben, da ihre genetisch verankerten Wirkformen noch gar nicht in den Sichthorizont der gegenwärtigen, ausschließlich vom physiko-chemischen Paradigma angeleiteten Methoden geraten sind. Bionik bedeutet auch methodisch ein Ausgreifen in bisher noch völlig unerforschtes Gelände.
Sie erfordert nicht zuletzt den Blick auf die eigene menschliche Natur und auf die Geschichte der menschlichen Technik. Es kommt dabei immer wieder heraus, daß auch sie, diese Technik der menschlichen Frühzeit, bereits eine Art Bionik war, eingebettet in einen natürlichen Prozeß der Gestaltwerdung, gleichsam eine Morphologie des Lebens, deren Hervorbringungen sich an optimalen, "idealen", in ihrer Idealität aber maskierten Lösungen orientieren, ohne daß sie sich aneinander messen oder daß der eine direkt von dem anderen abstammt.
Man spricht in solchen Fällen von der "Konvergenz". Sowohl der Tintenfisch als auch die hochentwickelten Wirbeltiere verfügen über ganz ähnliche Linsenaugen, ohne daß die eine Art aus der anderen hervorgegangen wäre. Die Erfindung des Linsenauges wurde nicht einmal, sondern mehrmals unabhängig voneinander gemacht, und eben das nennt man Konvergenz. Und die menschliche Technik ist Moment und Bestandteil dieses natürlichen Konvergenzprozesses.
Sie fand bereits – das wohl populärste Beispiel – beim ganz "primitiven", allerersten Häuserbau optimale Formen der Fachwerkkonstruktion, die auf überraschende Weise mit der Feinstruktur der Knochenbälkchen bei Wirbeltieren kongruierten. Ähnlich verhält es sich mit Spritzen, Propellern, Vorflügeln oder Saugnäpfen. Alle diese Erfindungen wurden gemacht, ohne daß ihre "Vorbilder" in der lebendigen Natur (bei Bienen, Ahornfrüchten, Daumenfittichen der Vögel oder Kraken) beachtet wurden oder auch nur bekannt gewesen wären. Wahre Bionik kupfert nicht ab, sie schafft wie Natur, niemals gegen die Natur.
"O mani padme hum", beten die Buddhisten im Himalaja, "alles Leben ist im Lotus". Die Lotusblume ist für sie seit Urzeiten Symbol der Weisheit, und der sitzende Buddha bildet sie sorgfältig nach. Vielleicht heißt das, Symbolik ein wenig zu weit zu treiben. Aber zweifellos gilt, auch unter modernsten Umständen: "Jede Technik kommt aus dem Lotus."