Am 4. Februar jährt sich der Geburtstag des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffers zum hundertsten Male. Aus diesem Anlaß finden in Deutschland, aber auch im Ausland zahlreiche kirchliche und akademische Gedenkveranstaltungen statt, in denen erfahrungsgemäß seine herausragende Rolle im deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewürdigt wird. Viele Straßen, öffentliche Einrichtungen und evangelische Kirchengemeinden sind nach dem am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg hingerichteten Widerstandskämpfer benannt und halten die Erinnerung an sein Handeln wach. In diesem Sinne ist von den polnischen Behörden auch ein Denkmal in seiner Geburtstadt Breslau errichtet worden. In Großbritannien wurde er durch die Aufnahme in eine Skulpturen-Gruppe der zehn bekanntesten Märtyrer des vorigen Jahrhunderts am Westportal der Londoner Westminster-Abtei geehrt. So verständlich diese Fixierung der Würdigungen auf den Widerstandskämpfer Bonhoeffer auch ist, sollte eben doch bedacht werden, daß sie teils unbewußt, teils aber auch sehr bewußt politisch-ideologische Fehlurteile begünstigt, die dem Theologen nicht gerecht werden. Als lutherisch geprägtem Protestanten kam es ihm nicht allein darauf an, gegen etwas zu kämpfen, sondern für etwas einzutreten und zu bezeugen (pro-testari) – und dabei die Erfahrungen zu berücksichtigen, die man in diesem Kampf gewonnen hat. Dazu zählt die Beachtung einer Grundregel politischen Handelns, daß ein gemeinsamer Kampf gegen etwas nicht unbedingt eine verläßliche Basis für einen gemeinsamen Kampf um eine politische und gesellschaftliche Neuordnung schafft. Ganz im Gegenteil! Vieles von dem, was Bonhoeffer zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus motivierte, traf im wesentlichen auch auf den Sozialismus, den Kommunismus, den Liberalismus, den allgemeinen Säkularismus und sonstige -ismem zu. Bei aller selbstverständlichen Beachtung der Unterschiede hat Bonhoeffer sie als folgerichtige Konsequenz einer emanzipatorischen Revolte des autonomen Menschen gegen die von Gott gesetzten Normen und Formen menschlicher Daseinsgestaltung beurteilt. Sie begann mit der Französischen Revolution und löste einen permanenten Prozeß der Auflösung des christlichen Abendlandes ein, der bis heute andauert. „Mit dem Verlust seiner durch die Gestalt Jesu Christi geschaffenen Einheit steht das Abendland vor dem Nichts“, schreibt Bonhoeffer in seiner 1949 postum erschienenen „Ethik“. „Die losgelassenen Gewalten toben sich aneinander aus. Alles Bestehende ist mit Vernichtung bedroht: Leben, Geschichte, Familie, Volk, Sprache, Glaube – die Reihe läßt sich ins Endlose fortsetzen, denn das Nichts verschont nichts – fallen dem Nichts zum Opfer. (…) Das Abendland ist dabei, die Annahme seines geschichtlichen Erbes zu verweigern. Das Abendland wir christusfeindlich. Das ist die einzigartige Situation unserer Zeit.“ Bonhoeffer widerspricht damit entschieden einem linksintellektuellen Geschichtsverständnis, das die Wurzeln für das Aufkommen des Nationalismus und später des Nationalsozialismus vornehmlich im vermeintlichen „Irrweg der deutschen Nation“ (Alexander Abusch) von Martin Luther über Friedrich den Großen und Bismarck zu Hitler (so Bonhoeffers theologischer Zeitgenosse Karl Barth) ausmachte. „Es ist einer der grotesken historischen Irrtümer, ausgerechnet Preußen als den Geburtsort und Repräsentant des Nationalismus zu bezeichnen. Es gibt kein Staatsgebilde, das dem Nationalismus fremder, ja feindseliger gegenübergestanden hätte als Preußen. Preußen war Staat, aber nicht Nation. Es vertrat die Sache der Obrigkeit, des Seins, des Institutionellen. Preußen empfand in gesundem Instinkt das Revolutionäre im Begriff der Nation und lehnte es ab. (…) Es hat damit abendländischer gedacht als die Institution.“ Zum Verständnis der politischen Auseinandersetzungen und Divergenzen um Bonhoeffers Positionen im Prozeß der Neuordnung Deutschlands nach 1945 sei daran erinnert, daß der Alliierte Kontrollrat eine genau gegenteilige Ansicht vertrat und den Staat Preußen im Jahr 1947 per Gesetz auflöste, weil er „seit jeher der Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen“ sei. Zur Vermeidung heute üblicher Verdächtigungen sei erwähnt, daß es Bonhoeffer nicht um eine Relativierung deutscher Schuld durch Vergleiche und Aufrechnungen ging, wenn er die Entwicklung des Nationalismus und Nationalsozialismus aus dem engen Trichterkreis ideologischer Reduktionen löste und in den größeren Zusammenhang der europäischen Geschichte stellte. Das Bekenntnis der Schuld an dieser Entwicklung geschieht auch bei Bonhoeffer „ohne Seitenblick auf die Mitschuldigen“, sondern allein im Aufblick auf Jesus Christus. Es orientiert sich also nicht an politischen Erwartungen, sondern allein an der Erwartung der Schuldvergebung durch Jesus Christus – „für die Moralisten völlig unbegreiflich“. (Ethik) Deshalb kann auch nur die Kirche der Ort wahrer Erneuerung in Gesellschaft und Politik sein. Die Kirche kann diesen Beitrag jedoch nicht dadurch leisten, daß sie eine „Verchristlichung“ oder „Verkirchlichung“ der Gesellschaft anstrebt und die Religionslosigkeit der Welt attackiert, die sie auf vielfältige Weise mitverschuldet hat. Schuldbekenntnis und Schuldvergebung Dazu gehört das Problem der Verkündigung des Evangeliums in einer religionslos gewordenen Welt. „Der Mensch hat gelernt, in allen wichtigen Fragen mit sich selbst fertigzuwerden. In wissenschaftlichen, künstlerischen, auch ethischen Fragen ist das eine Selbstverständlichkeit geworden. Seit etwa hundert Jahren gilt das auch für religiöse Fragen“ (Widerstand und Ergebung). Entweder haben Theologie und Kirche zentrale Aussagen der christlichen Bekenntnisse „entmythologisiert“ und damit dem Selbstverständnis des „modernen Menschen“ angepaßt (so der Theologe Rudolf Bultmann) – oder aber sie wurden in traditioneller Weise verteidigt ohne hinreichende Rücksicht darauf, ob sie von den religionslosen Menschen noch verstanden werden. In dem einen wie in dem anderen Fall wurde (und wird bis heute) nicht bedacht, daß es bei der Verkündigung nicht nur um den Glauben geht, sondern immer auch um die Glaubwürdigkeit, allgemeiner formuliert: um die intellektuelle Redlichkeit, die Bonhoeffer immer wieder angemahnt hat. Bonhoeffer hat deshalb für eine „nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe“ plädiert, die den modernen Menschen trifft. Interpretation bedeutet nicht Uminterpretation, d.h. Veränderung der biblischen Aussagen. Ganz im Gegenteil. Im Interesse der Glaubwürdigkeit hat Bonhoeffer wie kaum ein Theologe vor oder nach ihm daran erinnert, daß zu verantwortlichem kirchlichen Handelns Praktizierung von Lehr- und Gemeindezucht gehört: „Durch falsche Lehre wird die Quelle des Lebens der Gemeinde und der Gemeindezucht verdorben. Darum liegt die Versündigung gegen die Lehre schwerer als die Versündigung im Wandel. Wer der Gemeinde das Evangelium raubt, verdient uneingeschränkte Verurteilung“, heißt es in seinem Buch „Nachfolge“ (1937). Lange Passagen der Schriften Bonhoeffers lesen sich wie brandaktuelle Beiträge zu den drängenden Fragen unseres Volkes und unserer Zeit, aber wo finden sie in der öffentlichen Auseinandersetzung ihre gebührende Beachtung? Der Horizont unserer vielzitierten Erinnerungskultur unter dem Motto „Wider das Vergessen“ verengt sich immer weiter. Er erfaßt inzwischen zentrale Aussagen Bonhoeffers zur Neuordnung Deutschlands und Europas nicht mehr. Eine beklemmende Bestätigung seiner Mahnungen! Sein Vermächtnis ist noch nicht erfüllt. Foto: Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), undatierte Aufnahme: Sein Vermächtnis hat sich noch nicht erfüllt
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