Udo Di Fabio, seit Ende 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht und Mitglied des Zweiten Senats, hat ein Buch geschrieben – zu günstiger Stunde. Denn der Name Di Fabio war, einer neueren Gepflogenheit der Medien folgend, im Zusammenhang mit der Entscheidung des Gerichts, der zufolge die von Bundeskanzler Gerhard Schröder herbeigetrickste Bundestagswahl mit der Verfassung im Einklang stehe, immer wieder genannt worden: Er war Berichterstatter in diesem Verfahren. In den prophetischen Darstellungen des Prozeßstoffes ist Di Fabio als ein „Konservativer“ beschrieben worden. Das hatte seinen besonderen Reiz, weil Herkunft und Werdegang eher auf Zuordnung zum Progressiven schließen ließen. Er ist Enkel eines aus Italien ins Ruhrgebiet eingewanderten „Gastarbeiters“ (das Wort gab es damals noch nicht – und heute nicht mehr). Nach etlichen Jahren als Beamter des mittleren Dienstes ist er über den zweiten Bildungsweg zum Abitur gelangt, hat die beiden juristischen Staatsexamina abgelegt, nebenher in zwei Fächern promoviert. Nach einer Praxiszeit als Sozialrichter schlug er die akademische Laufbahn ein. Sie führte ihn im Professorenamt über die Universitäten Münster, Trier, München nach Bonn. Den Lehrstuhl dort wird er wieder ganz wahrnehmen, wenn die zweite Hälfte seiner zwölfjährigen Amtszeit als Verfassungsrichter vorbei ist. Mit seinem Buch „Die Kultur der Freiheit“ betritt Di Fabio das Feld der Staatsphilosophie. Seine Gedanken sind ein Versuch des Ordnens seiner Lebenserfahrungen. Er entwirft ein Leitbild eines modernen Konservatismus. Das Buch wiederholt nicht das Muster des „Konservativen“ der alten Schule. Konservatismus lehnt nach Di Fabio Veränderungen nicht ab, geht vielmehr von einem Modell des stetigen Wandels aus, setzt einen ständigen Prozeß der Veränderung voraus. Nach diesem Kulturbegriff konkurrieren Gleichheit und Freiheit um den Vorrang, der aber, soll die – vom Autor der westlichen Welt zugeordnete – Kultur Bestand haben, letzten Endes der Freiheit zukommen muß. Der Verfasser kommt immer wieder auf die Versuchungen der Gleichheit zu sprechen und auf die Schwierigkeiten, ihnen zu widerstehen – denn das Ziel der Gleichheit wird gestützt von der mächtigen Kraft des Verlangens nach Sicherheit. In Abhängigkeit von der Kultur der Freiheit sieht Di Fabio eine Abfolge der Vergemeinschaftungen. An der ersten Stelle steht, alle folgenden Stufen bedingend, die Familie. Leitbild ist die Familie mit Kindern; der Autor vermerkt kritisch, daß die heutige Sozial- und Familienpolitik Kinder nahezu ausschließlich als materielle Last sieht, die zur technokratischen Verbesserung des Altersaufbaus der Gesellschaft durch öffentliche Förderungen leichter gemacht werden sollte. Auf dem Fundament der Familie entstehen weitere Gemeinschaften: über Staat und Nation bis zur Menschheit als Gattung. Am wirkmächtigsten haben sich seit dem Einsetzen der ersten Hochkulturen als politische Einheit beherrschte Sprach- und Kulturgemeinschaften gebildet, zuvorderst durch die Religion zusammengehaltene Verbindungen. Auf dieser Grundlage entwickelt der Autor seinen Begriff von Staat und Nation. Sie dienen der Bewahrung der Kultur, die als Begriff weiter zu fassen sei als ein Hervorbringen von künstlerischen oder sonstigen geistigen Leistungen. Als nicht a priori vorhandene, aber anzustrebende Regierungsform sieht Di Fabio die Demokratie. Als obersten „Wert“ der staatlichen Ordnung betrachtet er, im Einklang mit dem Grundgesetz und der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die Menschenwürde, die von dem bedeutenden Staatsrechtslehrer Günter Dürig als „materielles Hauptgrundrecht“ definiert wurde. Di Fabio beschreibt die Entartungsformen, die den Weg der Optimierung der Demokratie bei Sicherung der Menschenwürde säumen; als eine der bedrohlichsten Gefährdungen erkennt er eine nur an den Bedürfnissen und Opportunitäten des nächsten Tages orientierte Politik. Trotz allem bejaht er die Frage: „Gehört es zum ethisch begründeten und menschenrechtlich gebotenen Mindestbestand einer vollständig als zivilisiert anerkannten politischen Gemeinschaft, daß sie demokratisch verfaßt ist?“ Mit Bezug auf die Versuche, übernationale Gemeinschaften zu errichten, beharrt Di Fabio auf der mit gewachsener Eigenart korrespondierenden nationalen Selbstbestimmung. Der Autor läßt es nicht mit – wohlbegründeten – Warnungen vor einem Abirren sein Bewenden haben, für die es in der deutschen Geschichte bis zum Exzeß diskutierte Beispiele gibt. Er kommt zu einer optimistischen Schlußfolgerung – die einem dumpfen, ängstlichen Beharren auf dem Bestehenden ebenso eine Absage erteilt wie den allzu vieles versprechenden Fortschrittsideologien, die sich nicht selten als Bindemittel für Zwangsgemeinschaften erweisen. Dem Autor schwebt ein zuversichtliches, sich nicht in der Abwehr des Neuen erschöpfendes konservatives Weltbild vor: „Tradition überzeugt in der Moderne nur, wenn sie die Idee und die Trittsicherheit für das Neue gibt.“ Die Zeichen der Zeit stünden günstig für die Geburt einer neuen bürgerlichen Epoche, „die Lebenslust mit selbstbestimmter Disziplin verbindet, die Unterschiede zwischen Männern und Frauen spielerisch wieder zuläßt und betont, ohne in überholte Rollenklischees zu verfallen“. Di Fabio fährt fort: „Der neue Bürger ist kein Untertan, er ist rebellisch, wenn ihm ein politisch korrektes Korsett angepaßt werden soll, er liebt seine Eigenwilligkeit und die abweichende Ansicht, aber er liebt ebenso die Einsicht und die gelingende Bindung.“ Eine neue Generation werde die „Lust am Abenteuer seiner Kinder wieder entdecken, wird Existenzen, Unternehmen und Familien gründen. (…) Der überregulierende Staat von heute und neue sozialtechnologische Herrschaftsformen auch überstaatlicher Art werden sich vor diesem neuen Bürgerstolz zu rechtfertigen und zu ändern haben, sie werden als nützliche Voraussetzung individueller Freiheit geachtet werden.“ Als leise Warnung fügt der Verfasser den Vorbehalt hinzu: “ solange sie dies sind“. Das Buch ist gewiß keine leicht eingängige, spielerisch zu bewältigende Lektüre, noch wirbt es um die Zustimmung, die beim Verbleib auf eingefahrenen Meinungsgleisen zu gewinnen wäre. Die Begriffsbildung ist anspruchsvoll, bedürfte hier und da des klärenden, abgrenzenden Schliffs. Zumal gegen Schluß verfällt der Autor hin und wieder ins Aphoristische. Er verkündet Thesen, die nicht bis ins letzte durchgearbeitet erscheinen. Streckenweise wirkt das Buch wie ein Interview des Autors mit sich selbst. Aber die Skizze eines optimistischen, selbstbewußten, sich nicht in einer sterilen Verteidigungshaltung erschöpfenden Konservatismus bietet ein Modell, das fortzuschreiben sich lohnt. Udo Di Fabio: Die Kultur der Freiheit. Verlag C.H. Beck, München 2005, XXVI und 295 Seiten, gebunden, 19,90 Euro
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