So komponierte sich’s im Kriege! Der Welt, die Franz Lehárs Vorkriegsoperetten abschildern, war spätestens mit August 1914 die Geschäftsgrundlage abhanden gekommen, und damit dem Komponisten die seine. Zu den Erfolgsmodellen des „Grafen von Luxemburg“ oder gar der „Lustigen Witwe“ führte kein Weg zurück und zu den tragischen Operetten der ausgehenden zwanziger Jahre, die längst überholte Opernmodelle noch einmal ausschlachten werden, hatte er den Weg noch nicht gefunden. Lehár begann mit musikalischen und dramaturgischen Formen und sogar mit der Zusammensetzung seiner Manufaktur zu experimentieren. Erstmals arbeitete er mit dem promovierten Juristen Friedrich Löwy zusammen, der sich Fritz Löhner nannte und unter dem Pseudonym Beda Satiren, Sketche, Gedichte verfaßte. Ihre Operette handelt von einem jungen Astronomen, der sich mit gleich drei Mädchen verlobt, um sich mit zweien wieder zu entloben, das übrige Mädchen zu heiraten und – für einen Wissenschaftler keine Selbstverständlichkeit – die Ehe schlußendlich auch zu vollziehen. So dichtete sich’s im Kriege! Als Titel schlug Lehár „Der keusche Joseph“ vor, Löhner dagegen „Der reine Tor“, zur Uraufführung am Wiener Theater in der Josefstadt, damals wie heute eine Sprechbühne, kam im Januar 1916 „Der Sterngucker“. Die Ersteinspielung dieser vergessenen Lehár-Operette mit der Deutschen Kammerakademie Neuss unter der Leitung des Cassadò-Schülers Johannes Goritzki (cpo 999 872-2) hätte interessante Einsicht in die Werkstatt eines Komponisten geben können, der an ursprüngliche Gattungstraditionen des „Werkchens“ wieder anzuknüpfen suchte, ans Musikalische Lustspiel und an die Opéra-Comique. Doch statt dessen bekommt der Hörer eine unter Mithilfe von Lehárs altbewährtem Librettisten Dr. Willner erstellte Zweitfassung serviert, die im September am Theater an der Wien zur Aufführung kam, denn von der ursprünglichen haben sich – dem Autor des informativen Einführungstextes Stefan Frey zufolge – nur einige Klavierauszüge erhalten. In dieser Zweitfassung hat Lehár alle Spuren eines Experiments, so da eines gewesen sein sollte, ausgetilgt, acht Nummern gestrichen, fünf neu geschrieben und den rechten Takt trotzdem nicht gefunden. Weil in der Einspielung vom Dialog nur einige brav aufgesagte Rudimente übergeblieben sind, kann sich dem Hörer die szenisch-musikalische Dramaturgie nicht erschließen. Obendrein bekommt er im Beiheft statt eines vollständigen Libretto-Abdrucks lediglich eine dilettantische Nacherzählung der Handlung voller ranzigen Humors vorgesetzt. So muß sich zwangsläufig der fatale Eindruck eines bunten Straußes mehr oder weniger aparter Einzelnummern zu einer mehr oder weniger blöden Story einstellen, den der – noch vor aller Interpretation – hasenfüßige Zugriff der Interpreten kaum zu korrigieren vermag. Die Solisten wirken leicht überfordert, die Männer (Lothar Odinius, Robert Wörle, Markus Köhler) mehr, die Frauen (Claudia Rohrbach, Hanna Dóra Sturludóttir) etwas weniger. Die verstehen sich in mancher Nummer auf einen Ton, wie ihn nur Wesen aus lichten Höhen zu treffen verstehen, sehr rein und kühl und doch so anziehend, daß der Sterngucker, den sie ja sanft auf den Boden der Tatsachen herunterholen wollten, gar nicht anders kann, als ihnen ein Stück weit entgegenzukommen. Wie dichtet und wie komponiert sich’s denn nun so im Kriege? Die vorliegende Aufnahme läßt die Frage unbeantwortet, was von der Zeit, von der die Autoren ihren „Sterngucker“ abzusetzen suchten, in diesem beschlossen liegen könnte. Sie schließt eine Lücke in den CD-Katalogen – eine Lücke in unserem kulturellen Gedächtnis schließt sie nicht.