Der größte Deutsche nach Goethe. Der einzige „Heilige der deutschen Gelehrsamkeit“ von internationalem Rang, wenigstens aber doch der „Bismarck der Soziologie“ und die „identitätsstiftende Totemfigur für eine Vielzahl gegenwärtiger Wissenschaften“ (Dirk Käsler) – solchem Huldigungsvokabular begegnet noch 2005, wer den „Wunderwald“ (Jürgen Osterhammel) des Werkes von Max Weber betreten möchte. Die „Weber-Legende“ ist zählebig. Zu viele Interessen, zu viele wissenschaftspolitisch motivierte Legitimationswünsche bündelten sich nach 1945 in der Figur dieses Meisterdenkers. Seinen strategischen Wert mag ungefähr ermessen, wer an die Millionen denkt, die bisher in das vor dreißig Jahren in Angriff genommene, noch lange nicht abgeschlossene megalomane Projekt der „Max-Weber-Gesamtausgabe“ (MGW) flossen. Das teuerste sozialwissenschaftliche Editionsunternehmen der Bonner Republik war konzipiert als „Anti-Marx“, als regalmeterfüllender Abwehrriegel gegen die „blaue Pest“ der MEGA, der Marx-Engels-Gesamtausgabe. Die Schrift, die Max Webers Weltruhm begründete, „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904/05), galt unter den Weberianern der sechziger Jahre umstandslos als durchschlagende Antwort auf Marxens „historischen Materialismus“, denn, so die kanonisierende Weber-Monographie von Reinhard Bendix (1964), sie „widerlegte die These, daß das menschliche Bewußtsein durch seine soziale Klasse determiniert sei“. Aus der calvinistischen Erlösungssehnsucht entspringt das asketische Arbeitsethos, daraus das kapitalistische Wirtschaftssystem: Das Bewußtsein bestimmt das Sein, nicht umgekehrt. Mindestens so attraktiv wie der Anti-Marx war „der große Liberale“ Max Weber (1864-1920), die zerknirschte Jesaja-Gestalt des wilhelminischen Zeitalters, der Kritiker deutschen Weltmachtstrebens, der kühle Rationalist und „Verantwortungsethiker“, der inmitten von „Gesinnungspolitikern“ vergeblich den demokratischen Umbau des Reiches angemahnt habe, der Untergangsprophet, der den November 1918 als Resultat deutscher Hybris früh hatte kommen sehen. Mit Max Weber als Reichskanzler, so träumten es Witwe Marianne und der Heidelberger Kollege Karl Jaspers, erste Promotoren der „Weber-Legende“, wäre der Heils-„Weg nach Westen“ eingeschlagen worden, zumindest aber wäre den Deutschen, hätten sie ihn 1919 zum Reichspräsidenten einer „plebiszitären Führerdemokratie“ gewählt, ein Hitler erspart geblieben. Einer der einflußreichsten Netzwerker unter den bundesdeutschen Historikern, der 2004 verstorbene Wolfgang J. Mommsen, hatte 1959 in seiner Dissertation („Max Weber und die deutsche Politik“) diesen Teil der Legende fortgestrickt: Weber, „ein Liberaler in der Grenzsituation“. Um den Stellenwert der Mammutbiographie Webers, die Joachim Radkau nun vorlegt, angemessen zu würdigen, sollte man diesen Vorlauf der Rezeptionsgeschichte kennen. Und man muß vertraut sein mit den Aufsatzsammlungen des Freiburger Politikwissenschaftlers Wilhelm Hennis, vor allem mit „Max Webers Fragestellung“, die 1987 bereits den Ideologemen dieser unumschränkt „herrschenden Meinung“ zu Leibe rückte, die das Kartell der MGW-Herausgeber um Mommsen und die Soziologen Wolfgang Schluchter („Generalstabschef“) und Rainer Lepsius („politisch geschickter Entrepreneur“) vermarktete. Für Hennis war Weber weder Liberaler („denkt nicht einmal ‚liberal‘!“), noch Anti-Marxist, noch jener Wissenschaftstheoretiker, den Talcott Parsons für sein US-Publikum in den „Stammvater“ einer „strukturalistisch-funktionalistischen Version von Soziologie“ verwandelt hatte und den die Bonner Sozialwissenschaft dann jahrzehntelang als anglisierten Weber gierig aufsog. Hennis wollte Weber wieder in sein geistiges Ursprungsbiotop zurückversetzen, in das „deutsche Staats- und Freiheitsdenken“, das sich fundamental von dem des Westens und seinem naturrechtlich-liberalen Politikbegriff unterscheide. Max Weber – das sei ein „Stück spezifisch deutscher Geistesgeschichte“, „deutscher Eigenbau“, wie Hennis 2003 („Max Weber und Thukydides“) betont, ein Denker, für den die Nation „kein Sandhaufen unverbundener Individuen mit ihren ‚Menschenrechten'“ gewesen sei, „wie es offenbar das neudeutsche Ideal der ‚Zivilgesellschaft‘ ist“. Bei weitem nicht so radikal und konsequent wie Hennis, gezügelt durch sein akademisches Herkunftsmilieu in Bielefeld und gewöhnt an die Perspektiven seines Lehrers Fritz Fischer, tritt nun auch Radkau als Entmythologisierer an und vollstreckt den einen oder anderen von dessen Steilpässen. Bezeichnend für seine Vorsicht ist dabei, wie er ein vernichtendes Urteil über die ideologischen Prämissen der MWG-Gralshüter in einer Anmerkung versteckt: Lepsius habe in Kenntnis noch unveröffentlichter Briefe, „obwohl ihm die Einsicht äußerst zuwider war“, zugeben müssen, „daß Weber der Nation im Krieg, seiner Wissenschaftslehre zum Trotz, eine ontologische Substanz zugeschrieben habe“. Natürlich findet man bei Weber ebensowenig eine „allgemeine Vernunft, aus der sich das rechte Handeln ergibt“, so daß auch unsere kosmopolitischen „Universalethiker“ hier an der falschen Adresse sind. Von der Befähigung zum Politiker, von der „verlorenen Möglichkeit der Führerschaft Max Webers“ (Jaspers), vom Reichskanzler im Wartestand, nimmt Radkau angesichts blamabler Fehleinschätzungen Webers und des häufig gänzlichen Versagens seiner politischen Urteilskraft höchstens noch ironisch Notiz. Zu Radkaus Restbefangenheit im Legendarischen zählt dann aber die Mär vom Wandel des Polenhassers zum Polenfreund, dabei Jaspers‘ Erinnerung an Webers Furor von 1919 unterschlagend: „den ersten Polen, der es wagt, Danzig zu betreten, trifft die Kugel“. Zu bedauern ist nur, daß der Leser Radkaus Zerstörung der geschichtspolitisch relevanten Teile der Weber-Legende immer wieder aus den Augen verliert. Denn Radkau, bekannt geworden mit einer Mentalitätsgeschichte über das deutsche „Zeitalter der Nervosität“ zwischen Bismarck und Hitler (1998), treibt der Ehrgeiz, mit der Leidensgeschichte des lange Jahre „sexuell blockierten“ Neurasthenikers Weber zugleich die Kollektivpsyche der wilhelminischen Eliten freizulegen. Dabei gelingen ihm messerscharfe Porträtstudien wie jene Friedrich Naumanns, des ersten „Nationalsozialisten“, bis heute Namenspatron der FDP-Parteistiftung. Doch insgesamt quält man sich durch endlose Krankenberichte und Seitensprunghistörchen samt den in epischer Breite zitierten Notaten über des Professors „Pollutionen“, durch einen Überhang von dreihundert Seiten, der weder Webers Werk noch die Politik des Zweiten Reiches sexualpathologisch zu entschlüsseln vermag, sondern einfach nur peinlich wirkt. Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. Carl Hanser Verlag, München 2005, 1.008 Seiten, Abbildungen, gebunden, 45 Euro