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Was sind schon ein paar Tränen

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Was sind schon ein paar Tränen

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Der deutsche Film ist wieder da! Nach den unsäglichen „Komödien“ der achtziger und neunziger Jahre, in denen uns triefend spießige Mittelstands-Enddreißiger nervten, deren Gedanken um nichts anderes kreisten als um die Probleme pubertierender Vierzehnjähriger, hat das Kino hierzulande endlich wieder Themen jenseits der miefigen massenkompatiblen Belanglosigkeiten entdeckt. Nach Hardy Martins „So weit die Füße tragen“, Sönke Wortmanns „Das Wunder von Bern“ und Bernd Eichingers „Der Untergang“ hat sich nun Joseph Vilsmaier („Herbstmilch“, „Stalingrad“, „Schlafes Bruder“) Adalbert Stifters grandioser Weihnachtsnovelle „Bergkrystall“ zugewandt, und es ist ihm gelungen, ein großes Kinoereignis zu schaffen. Stifters 1845 erschienene Erzählung spielt in der nahezu hermetisch abgeschlossenen Alpenwelt zur Zeit des Biedermeier und Vormärz. Aber es sind keineswegs idyllische Zustände, die in dieser fast noch archaischen, von der Verstädterung und der industriellen Revolution des beginnenden Maschinenzeitalters noch völlig unberührten Hochgebirgslandschaft herrschen. Ein vergletscherter Bergzug trennt die beiden Alpendörfer Gschaid und Millsdorf, doch obwohl ein schmaler Pfad über den Berg führt, geht die Trennung viel tiefer: Brauchtum und Sitten sind in den Tälern sehr unterschiedlich, und die Dörfler hegen traditionell eine herzliche Abneigung gegeneinander. Als sich Sebastian (Daniel Morgenroth), der junge Schuhmacher von Gschaid, in die schöne und reiche Färberstochter Susanne (Dana Vávrová) aus Millsdorf verliebt und die beiden schließlich heiraten, setzen sie sich damit zwar über die uralte Feindschaft der Nachbardörfer hinweg, werden aber zu Außenseitern der Dorfgemeinschaft. Die Lage der Familie bessert sich auch nach Jahren nicht, wird sogar immer unerträglicher, und Susanne sieht keinen anderen Ausweg, als zu ihren Eltern nach Millsdorf zurückzukehren. Konrad und Sanna (François Göske, Josefina Vilsmaier), ihre beiden Kinder, besuchen die Mutter nun jedes Wochenende, so auch am Heiligen Abend. Doch auf dem langen Rückweg werden die Geschwister von einem schlimmen Schneesturm und einer gewaltigen Lawine überrascht und geraten im dichten Nebel ins Gletschereis. Hilflos den Naturgewalten ausgeliefert, finden sie endlich einen Unterschlupf in einer Eishöhle. Bei Sonnenaufgang suchen die Kinder erneut den Weg aus dem Eis, während die Einwohner von Gschaid und Millsdorf sich endlich gemeinsam mit den verzweifelten Eltern auf die Suche machen und der Bergkristall ihnen den Weg zeigt. Ausführlich widmet sich Vilsmaier nach einer gelungenen Reflexion über Weihnachten als eines der schönsten kirchlichen Feste der Beschreibung der Hochgebirgslandschaft, die höchst eindrucksvoll in ihrer Ruhe und Erstarrung die eigentlich wichtigste Rolle in „Bergkristall“ spielt. Staunend sehen die Kinder ein Polarlicht am Himmel, rätselhaft säkularisiert scheinen der scheinbar starre, aber vor Lebendigkeit und Regsamkeit krachende Gletscher und die geheimnisvolle Eishöhle, in die sich die beiden retten, zu jenen „Offenbarungslandschaften“ gehören, von denen bereits Walter Benjamin sprach, als er Naturbegriff und Landschaftsdarstellungen in Stifters Werk eine „geradezu pervers und raffiniert verborgene Dämonie“ zugestand. Jene ergreifende Einfachheit, die einen Film groß macht Und tatsächlich gelingt es Vilsmaier nach einem etwas zu zeitgeistig angehauchten Start – er hat die Rahmenhandlung in einen modernen Schickeria-Wintersportort samt der im deutschen Film offenbar unverzichtbaren Katja Riemann verlegt -, den fremden und unzeitgemäßen Entsagungsfiguren Stifters, die in der Versöhnung mit der Natur letztlich eine Entsühnung für ihre frühere Schuld erreichen, den Atem jener ergreifenden Einfachheit einzuhauchen, die einen Film groß macht. Wie er den Ablauf des Geschehens vom Pfarrer (Max Tidof) jenes Urlaubsortes erzählen läßt, die Wirkung der Natur und der Himmelserscheinungen schildert – die kleine Sanna berichtet den staunenden Eltern nach ihrer Rettung vor dem Schlafengehen, sie habe in der Nacht auf dem Berg „den heiligen Christ gesehen“ -, gehört zum besten, was Vilsmaier je inszeniert hat. Natürlich steht die Suche der beiden Kinder nach jenem magischen, sagenumwobenen Bergkristall, der unglücklich getrennt Liebende wieder vereinen soll, stellvertretend für unser aller Suche nach menschlicher Sicherheit und Geborgenheit. Nichts anderes hatte Vilsmaier – hierin exakt Stifter folgend – im Sinn, als er christliche Frömmigkeit und kosmische Naturauffassung und die klassischen Ideale Ordnung und Maß mit Liebe und Gerechtigkeit als dem „sanften Gesetz“ der Natur verband. So macht sein Film „Bergkristall“ dem Zuschauer ganz nebenbei bewußt, wie weit all dies uns modernen gehetzten und zerrissenen Menschen bereits abhanden gekommen ist. Das mag man vielleicht sentimental oder naiv nennen oder die „schöne Seele des Kitsches“ bemühen, doch was sind schon ein paar Tränen gegen die Ströme von Blut und Sperma, die uns seit Jahren auf der Leinwand zugemutet werden? Vielleicht läßt sich nur auf dieser Grundlage die Faszination eines Filmgenres erkennen, das seinen Bilderreichtum und seine Mythen aus dem Reservoir magischer, mystischer und religiöser Vorstellungen schöpft, die der Mensch im Laufe seiner Entwicklung verworfen, aber glücklicherweise niemals völlig überwunden hat. Vilsmaier hat mit seinem Film einen Anfang gemacht, Neugier und Verständnis für einen Ausflug in filmhistorisches Neuland zu wecken. Ein paar kleine handwerkliche und dramaturgische Fehler verzeiht man ihm da gern. Filmplakat: Reservoir mystischer und religiöser Vorstellungen Ja, der alte Heinz Rühmann hätte es gekonnt. Er hätte einen Folianten aus dem Regal gezogen, aufgeschlagen und mit sanfter, ruhiger Stimme angefangen zu lesen, den altvertrauten Text, als wäre er ihm heute zum ersten Mal vor Augen gekommen. Max Tidof kann es nicht. Er hätte den Worten, die ihm der Drehbuchlieferant in die Rolle geschrieben hat, daß er eine Geschichte von Naturkatastrophen, Liebe und Haß, Leben und Tod erzählen wolle, noch dieses und jenes hinzusetzen können: Vertrauen und Versöhnung, Tradition und Familie – sie blieben doch allesamt hohle Versprechen. Auch Joseph Vilsmaier kann es nicht. Hatte er 1995 die Orgelimprovisation des Johannes Elias Alder über „Komm, oh Tod du Schlafes Bruder“, das Kernstück von Robert Schneiders Roman, filmisch vergeigt, so begräbt er 2004 das Kernstück von Stifters Erzählung – den Irrweg der Kinder nach Hause – unter allerlei Naturersatzhandlung. Sein Film „Bergkristall“ entwendet Stifters Erzählung „Bergkrystall“ zwar dieses und jenes Motiv, die er auch von woanders bequem hätte heranschaffen können, verweigert sich aber jeglicher ihr eingeschriebener Erfahrung. Wenn es erst einer breit ausgeführten Rahmenhandlung bedarf, die dann nach 90 Minuten unlustig zu Ende gebracht wird, um die Aktualität einer Geschichte zu beweisen, dann ist es mit dieser meist nicht weit her. Eine Lawine pustet der Jugend, die in angesagter Winterurlaubsort-Location abtanzt, die Lichter aus und treibt Katja Riemanns Filmfamilien-Familie in Pfarrer Ernsts Quartier – „Nicht ins Auto!“ bewahrt der Vater seine Lieben noch geradeso vor womöglich tödlichem Irrtum. Pfarrers Geschichte bei Kerzenschein antwortet auf die Frage des Jungen nach einem Quarz, den er soeben auf dem Regal entdeckt hatte. Die Allegorie des Titels, den Stifter seiner Erzählung von 1845 „Der Heilige Abend“ gab, als er sie 1853 überarbeitet in seine Sammlung „Bunte Steine“ aufnahm, übersetzt das Drehbuch in ein Ding zum Anfassen, ein Souvenir. Die Kinder der Binnenhandlung, Konrad und Sanna, werden nicht von der Natur selbst, der schützenden Höhle, dem dreimaligen „Krachen des Eises“, vor dem Kältetod gerettet: der in der Eishöhle gebrochene Quarz reflektiert die Strahlen der Morgensonne und zeigt den Suchtrupps die Position der Kinder. Gebrochen wurde der Quarz überhaupt nur, weil ihm Konrad und Sanna die Kraft zuschreiben, die Eltern wieder zusammenzubringen. Die wiederum konnte nur das Drehbuch auseinanderbringen, nicht aber die Erzählung Stifters, weil sie in Stifters Gesellschaftsbild nie hätten auseinandergehen können. Die Änderungen des Drehbuchs verkehren das „sanfte Gesetz“, unter das Stifter seine Figuren stellt, in sein Gegenteil und zerstören eben jenen Begründungszusammenhang, der den Film überhaupt erst aktuell machen könnte. Stifters Interesse gilt der Unterordnung des Menschen unter die Gesetze der Natur, die außer und über ihm sind und gegen ihn gleichgültig, weil allgemeingültig, Schicksal also, das angenommen werden muß. Stellt sich der Mensch gegen die Gesetze, so schlägt seine Befreiung in Vernichtung und Selbstvernichtung um. Nimmt er sie an, wird ihm Rettung zuteil. Es ist das dreifache „Urvertrauen“ der Kinder – in die Natur, den geologischen Leib, in den Mutterleib und in die Dorfgemeinschaft, den sozialen Leib -, das sie die Nacht überstehen und Geburt und Auferstehung auf denselben Morgen fallen läßt. Eine biedermeierliche Hänsel-und-Greteliade Drehbuch und Regie aber deuten Natur, die Stifter gerade jeder Deutung entzieht, und machen sie ihren Zwecken verfügbar, verwerten sie im Wortsinne als Naturkulisse. Anstatt Stifters Welterleben erfahrbar zu machen, anstatt dem strengen Bau seiner Erzählung nachzuspüren und ihn von innen heraus filmisch aufzusprengen, putzen sie ihn mit einer Oberflächenhandlung fürs Weihnachtsgeschäft heraus. Wie immer, so gibt sich, was gefälscht ist, um so echter: jeder Ton, jedes Bild, jeder Schnitt, als könnte das bloße Abfilmen von Sichtbarem Wirkliches sichtbar machen. Die Kinder Josefina Vilsmaier und François Göske sprechen wie altkluge Burgschauspieler, und die Schauspieler Dana Vávrová und Daniel Morgenroth sprechen, wie sich ein Drehbuchautor das Sprechen der Altvorderen eben so vorstellt, und alle entledigen sich ihrer Aufgaben überaus routiniert und effizient. Wir hören, was wir sehen, und wir sehen, was wir hören, doppelt und dreifach. Und wenn die Dramaturgie gar zu vernehmlich knirscht, dann schmeichelt hie die Stimme des Erzählers dem Ohr, da eine abgefilmte Bergkulisse in Breitwandformat – die nun aber auch gar nichts mit Stifters Schneeberg, dem Gars, zu tun hat – dem Auge und kitzeln hie und da Weihnachtslieder in scheußlichen Arrangements das Zwerchfell. Da ist Stifters provozierende Erzählung längst auf eine biedermeierliche Hänsel-und-Greteliade heruntergewirtschaftet, deren Sittenbild in der Tat nahtlos an die spießigen, bigotten Beziehungskomödien der 1980er Jahre anschließt, in welchen Milieus auch immer die angesiedelt waren. Der deutsche Film ist heute weiter; die Passionsspiele in Oberammergau sind es auch. Wenn ein Kind sagt, es habe „den heiligen Christ gesehen“, so glaube man dem Kind. Wenn es ein Filmkind behauptet, so glaube man ihm nicht. Hätte es anderes und Schöneres gesehen als Vilsmaiers hohlen Bergzauber, unsichtbar Wirkliches, dann hätten wir es in den Augen des Kindes wiederfinden müssen. Was auch immer Onkel Tidof den Kindern erzählt haben mag: Stifters Erzählung kann es nicht gewesen sein. Dafür führt er uns Hedonisten eindringlich vor Augen, daß Schnee durchaus auch gesundheitsschädigende Wirkungen haben kann. Foto: Sanna (Josefina Vilsmaier), Konrad (François Göske): Altklug

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