Am 30. Dezember jährte sich zum 125. Mal der Geburtstag des sudetendeutschen Dichters Erwin Guido Kolbenheyer. Sein OEuvre umfaßt zum großen Teil historische Romane und Dramen. Kolbenheyer war zutiefst überzeugt, daß die Dichtung die nationale Aufgabe habe, die Volkskräfte zu sammeln, zu bewahren und zu steigern. Kolbenheyer wurde 1878 als Sohn eines namhaften Architekten in Budapest geboren. Er studierte in Wien Naturwissenschaften, Philosophie und Psychologie und promovierte 1905 zum Dr. phil. Im Ersten Weltkrieg war er Leiter eines Kriegsgefangenenlagers. 1919 übersiedelte er mit seiner Familie nach Tübingen, wo er als Privatgelehrter tätig war. Die Universitätslaufbahn schlug er aus, um sich ganz den privaten Studien und seiner literarischen Tätigkeit zu widmen. Seit 1932 wohnte er in Solln bei München. Nach dem Zweiten Weltkrieg von der Besatzungsmacht aus seinem Besitz vertrieben, fand er in Geretsried bei Wolfratshausen eine Bleibe. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurde Kolbenheyer durch eine Reihe eindrucksvoller Romane bekannt, die alle am Ausgang des Mittelalters im Übergang zur Neuzeit spielen. Sein großes historisches Epos, mit dem er sich in die Reihe der bedeutenden deutschen Dichter stellte und weit über die deutschen Grenzen hinaus einen Namen machte, war allerdings die Trilogie „Paracelsus“, die in den Jahren 1917 bis 1925 erschien. Stefan Zweig, Werner Mahrholz, Joseph Hofmüller und Wilhelm Stapel lobten das Werk in den höchsten Tönen. Kolbenheyer wurde fortan zu den edelsten der deutschen Geister gezählt und der „Paracelsus“ mit Kellers „Grünem Heinrich“ und Grimmelshausens „Simplicissimus“ verglichen. Zahlreiche höchste Ehrungen wurden dem Dichter zuteil. Will man das Werk in seiner Gesamtheit mit seinem philosophischen Hintergrund verstehen, dann muß man einen Blick auf Kolbenheyers Philosophie der Bauhütte werfen. Er hatte dort einen biologischen Materialismus entworfen und daraus Geschick und Geschichte der Menschheit erklärt. In dieser Philosophie spricht er von Umbruchsoder Schwellenzeiten, in denen der „metaphysische Trieb“ eines Volkes mit den herrschenden Entwicklungszuständen nicht mehr zu befriedigen ist und deshalb die antiquierten, verkrusteten Formen sprengt und den Schritt in eine von den alten Beengungen erlöste Zukunft tut. Es ist dies eine Idee der geschichtlichen Vorwärtsbewegung, die – aller ideologischen Polarität zum Trotz – der marxistischen Lehre von der historischen Epochenfolge in ihren Konstruktionselementen durchaus nicht unähnlich ist; nur daß die ökonomische Basis, die in der marxistischen Schule zum Bewegenden aller Geschichte wird, bei Kolbenheyer durch das biologische Substrat ersetzt wird. Dies wird besonders deutlich, wenn man erkennt, daß bei Kolbenheyer alle Bewußtseinsakte nur Reflex eines biologischen Zustandes sind, umgekehrt bei Marx und den Seinen sich die Kulturzusammenhänge nur als Ausfluß der auf dem Wirtschaftlichen fußenden Ordnung erklären lassen. Schwellenzeiten, das sind die großen Umbruchzeiten, wie etwa der Übergang zur Zeit der Renaissance und der Reformation während des 15. und 16. Jahrhunderts, und Kolbenheyers Romanhelden sind nunmehr Bahnbrecher und Kinder einer neuen Zeit. Er hält fest an der Geschichtsmächtigkeit des hervorragenden Einzelnen und stilisiert Paracelsus zu einem deutschen Bekenner – genauso wie zu seiner Zeit, vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die politische deutsche Sehnsucht mit ihrer Geschichtsmythologie Hermann den Cherusker, Friedrich Barbarossa, Luther, Dürer und Bismarck zu heldischen Symbolfiguren erhöht hat. Paracelsus, dessen sittlich sich entwickelnde Lebensgeschichte der des Parzival durchaus verwandt ist, durchbricht wie der Reformator aus Wittenberg die Repressionsstrategien seiner lateinisch- kirchlichen Gegner. Er transzendiert das Persönliche, um überindividuellen nationalen Sehnsüchten zum Durchbruch zu verhelfen und die verschütteten archaischen Instinkte des Volkes wiederzugewinnen. Volk ist für Kolbenheyer der „Wirkungskörper“ größten Ausmaßes, der für den Einzelnen als Gemeinsamkeit noch konkret erlebbar ist. Eine Größe darüber hinaus – etwa die der Menschheit – stiftet keine begriffene Erfahrbarkeit mehr. Nation verwirklicht sich im Bewußtsein der Menschen; die Frage der Macht und der Herrschaftsformen berühren ihn nicht, schon weil ihm die Mechanik einer chauvinistischen Staatsauffassung fremd war. In einer rationalistisch-säkularen Zeit und nach zwei total verlorenen Weltkriegen ist es schwer, sich den Glauben an eine transzendente biologische Kraft als dem Substrat eines Volkes zu bewahren. Der Paracelsus- Roman bleibt indes auch für den, der nicht bereit ist, in das Phantasiereich biologischer Metaphysik aufzubrechen, ein großer Wurf, denn Kolbenheyer hatte ein außerordentliches Gespür für das historische Genre. Die Romanfiguren agieren wie bei Stifter in einer in sich geschlossenen Ordnung sinnreicher Bezüge. So sind die Dinge des Alltags nicht mehr bloße Gegenstände, sondern wie bei Heidegger Sinnbilder von Zuständen, von Geistigem, Mentalem, Psychischem. Ein gemeinsamer Grund, der vorgegeben ist durch ein selbstbewußtes geschichtliches Erbe, gibt dem Einzelnen Sicherheit, verweist ihn auf die Möglichkeiten des Daseins und hilft der Nation über die Wechselfälle der Geschichte hinweg. Das geschichtliche Antlitz der deutschen Nation zu beschreiben, und zur deutschen Selbstbestimmung beizutragen, war auch Kolbenheyers Anliegen in seinem autobiographischen Alterswerk „Sebastian Karst“. Im Aufzeigen ergreifender Einzelschicksale und des gesellschaftlichen Gesamtgeschehens entsteht ein kolossales Sittengemälde, in dem die wichtigsten menschlichen und nationalen Inhalte, Probleme, Strömungen usw. einer Epoche unmittelbar erscheinen – ein ungeheures Werk, das der Verfasser unter extrem erschwerten, unsäglichen Lebensbedingungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit schrieb. Nach 1945 wurde Kolbenheyer systematisch diffamiert. Zudem hat die institutionalisierte Germanistik an ihm ein Exempel statuiert und ihn exorzistisch als Nazi-Dichter aus der deutschen Literaturgeschichte verbannt. Mit dem Aussterben der konservativen älteren Generation und dem Abbau normativer Wertvorstellungen verschwand auch sein Name aus dem Kanon der bürgerlichen Bildung. Kolbenheyer starb am 12. April 1962.
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