Friedrich Nietzsche, der wohl bekannteste und zugleich umstrittenste deutsche Philosoph des 19. Jahrhunderts, war der schärfste und gefährlichste Kritiker des Christentums, den das christliche Europa hervorgebracht hat. Das christliche Europa? Ja, denn eine so ernst zu nehmende Gefahr kann nur aus der Mitte des Christentums selbst hervorgehen. Und wohl auch nur aus einem protestantischen Milieu. Nicht zufällig beginnt Otto Flake sein Nietzsche-Buch, das er Ende des Zweiten Weltkriegs angefangen und kurz nach dem Krieg veröffentlicht hat und das er im Untertitel bezeichnenderweise „Rückblick auf eine Philosophie“ nennt, mit einem deutlichen Hinweis auf dieses Milieu. Der Vater – letzter einer geistlichen Ahnenreihe – starb 1849, als Friedrich noch keine fünf Jahre alt war. Ist ein solches Milieu für einen kühnen jungen Geist nicht eo ipso Humus für Aufsässigkeit und Protest? Die Hoffnung der Familie, der junge Nietzsche – Stipendiat und Musterschüler der Eliteschule Schulpforta – werde in die Fußstapfen des Vaters treten, erfüllte der genial Begabte nicht. Er gründete an der Schule einen literarischen Verein mit Namen „Germania“. Er komponierte, schrieb Gedichte und schon mit 14 Jahren eine ziemlich altkluge Autobiographie. Er brillierte als Student in Leipzig und Bonn mit altphilologischen Arbeiten, die ihm 1869 außergewöhnlich früh, mit 24 Jahren, den Ruf auf eine Professur in Basel einbrachten – noch vor Abschluß seiner Promotion. Sein Lehrer Friedrich Wilhelm Ritschl empfahl ihn mit den Worten: „So viele junge Kräfte ich auch seit nunmehr 39 Jahren unter meinen Augen sich habe entwickeln sehen: noch nie habe ich einen Mann gekannt, resp. in meiner disciplina nach meinen Kräften zu fördern gesucht, der so früh und so jung so reif gewesen wäre wie dieser Nietzsche … Bleibt er, was Gott gebe, lange leben, so prophezeie ich, daß er dereinst im vordersten Rang der deutschen Philologie stehen wird.“ Nun, Gott sollte beides nicht geben: Mit den nächsten größeren Arbeiten, vor allem mit der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ rief er den Zorn der Fachwelt hervor. Er sah die antike Welt nicht in der klassischen, apollinischen Schönheit, in der Winckelmannschen „edlen Einfalt und stillen Größe“, sondern archaisch, wild, rauschhaft, lebenstrunken, eben dionysisch – das, wonach der geistig so Hochentwickelte, um nicht zu sagen: Dressierte, sich insgeheim sehnte. Pfarrhaus, fromme Tanten, strenge Schule, frühe, allzufrühe Geisteskultur: das alles einmal weit hinter sich zu lassen – war dies vielleicht das geheimste Motiv für seine zur Philosophie stilisierte Kulturrevolution? Der Musterschüler sehnte sich nach dem Archaischen In einem anderen, dionysischen Verständnis des antiken Griechentums wurzelnd, wandte er sich neuen, viel größeren Zielen zu: einer fundamentalen Kritik der gegenwärtigen Kultur, vor allem des Christentums. Dies geschah in drei Perioden, die durch die bekanntesten seiner Bücher markiert werden sollen: Die erste – begonnen mit der „Geburt der Tragödie“ – geht weiter „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ zu den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“. Die zweite Periode ist aufklärerisch. Zum hundertsten Todestag von Voltaire am 30. Mai 1878 gibt er – ohne sie ihm ausdrücklich zu widmen – seine erste große kulturkritische Arbeit heraus und nennt sie „Menschliches Allzumenschliches – ein Buch für freie Geister“. Im gleichen Sinne folgt „Morgenröte“. „Die fröhliche Wissenschaft“ umfaßt blendend formulierte kulturkritische Aphorismen. Erst die dritte Periode zeigt die radikale, zerstörerische und schließlich selbstzerstörerische Unerbittlichkeit seiner gottesstürzenden Visionen und Pläne. Krankheitshalber in Basel beurlaubt, stößt er – zwischen Deutschland, Italien, vor allem in hochalpinen Schweizer Eremitenklausen unruhig, von ständigen Kopfschmerzen und Sehstörungen gepeinigt irrend – ein Werk nach dem anderen hinaus: „Jenseits von Gut und Böse“, „Zur Genealogie der Moral“, „Also sprach Zarathustra“, „Götzendämmerung“, „Antichrist“ und schließlich das unvollendete „Wille zur Macht“. Kernpunkte seiner Kritik sind, das Christentum und damit die ganze abendländische Kultur seit Sokrates sei eine einzige Absage an die Natürlichkeit, die vitale Lebenskraft, den Eros: „Das Christentum gab dem Eros Gift zu trinken. Er starb zwar nicht daran, aber entartete zum Laster.“ Im „Zarathustra“, einem in wenigen fiebrigen Tagen und Nächten herausgeschleuderten dichterischen Hymnus, den man auch eine „Antibergpredigt“ nennen könnte, spricht er die drei Süchte selig: die Wollust, die Herrschsucht und die Selbstsucht. „Was ist gut? – alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? – alles, was aus der Schwäche stammt.“ Daraus ergibt sich für ihn: „Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe“. Nietzsche, der den 1870er-Krieg nur kurze Zeit als Krankenpfleger miterleben konnte und infolge einer Ruhr- und Diphtherie-Infektion aufgeben mußte, bewundert alles Starke und Gesunde, vor allem Renaissance-Menschen wie Cesare Borgia, diesen skrupellosen Giftmörder. In ihm sieht er sein Ideal, das höhere Raubtier. Das Christentum habe den Menschen zum Herdentier domestiziert – aus dem gleichen Grund lehnt er natürlich auch den gerade aufkommenden Sozialismus ab. Beide vertreten eine „Sklavenmoral“, der er seine „Herrenmoral“ entgegensetzt, die schließlich in der gigantomanischen Vision des „Übermenschen“ gipfelt. Schopenhauers pessimistische Menschensicht hat ihn stark geprägt, aber dessen Mitleidsgedanke überzeugt ihn nicht. Für die Zukunft – und er versteht seine Philosophie als „Zukunftsphilosophie“ – wünscht er sich einen aristokratischen, edlen neuen Menschen, der alles Niedrige, Gemeine, Miefige, aber auch das Mitleid mit dem Schwachen, hinter sich gelassen hat. Die Evolution – Darwins Hauptwerk „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ war gerade erschienen – steht dem nicht entgegen, ja bestärkt ihn in der Hoffnung auf das Erscheinen der „blonden Bestie“: im übrigen das krasse Gegenbild zu seiner eigenen schwächlichen, schüchternen, dunklen Erscheinung. Der Kampf – und alles Leben ist Kampf – gilt dem einzigen Wesen, das über dem Menschen ist. Und darum heißt die Parole jetzt „Gott muß sterben, damit der Übermensch lebe“. Der Philosoph Karl Joel sagte wohl mit Recht: Nietzsche haßte Gott nicht als Gott, sondern als die Grenze der Menschheit. Ihm war klar, daß der neue Mensch gleichsam nur über Gottes Leiche – wenn überhaupt – Wirklichkeit werden kann: „Der christliche Gottesbegriff – Gott als Krankengott …, Gott als Geist – ist einer der korruptesten Gottesbegriffe …, Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu sein.“ Sein Ton wird immer prophetisch-propagandistischer: „Das größte neuere Ereignis – daß ‚Gott tot ist‘, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen… Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: Wer erriete heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik im Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsternis, deren gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat?“ „Wie hielte ich es aus, kein Gott zu sein“ Die Befreiung von allen Überwelten und Hinterwelten, von jedem Jenseits, von Schuld und Gericht, von ewiger Heimat und metaphysischer Geborgenheit soll zwar den Durchbruch in die offene Zukunft bringen, aber damit auch in die ungeheure Sinnlosigkeit, in das unendliche Nichts. Erschreckt zündet der „tolle Mensch“ in der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1882) an einem Vormittag seine Laterne an, läuft über den Markt und schreit unaufhörlich: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ Er sucht ihn vergebens und erkennt: „Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von der Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns der leere Raum nicht an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt noch immerfort die Nacht und mehr Nacht?“ Ihm graut vor diesem furchtbaren Schritt ins Nichts, aber er wagt nun den Sprung mit seiner ganzen Existenz. Luther nennt einmal den Glauben die Kunst, aus dem Schatten das Hauses in das Licht der Sonne zu springen. Nietzsche, dieser „Letztgeborene des Protestantismus“, wie Otto Flake ihn nennt, riskiert den Sprung in den Abgrund des Nichts. In der Vorrede zu „Willen zur Macht“ heißt es: „Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, auf eine Katastrophe los … Ich beschreibe, was kommt, was nicht anders kommen kann: Die Heraufkunft des Nihilismus“. Er selbst bezeichnet sich als den ersten „vollkommenen Nihilisten Europas“. Er will die Dekadenz der faulenden christlich-europäischen Kultur überwinden, die „Jenseitskorruption“, die „Kleine-Leute-Moral als Maß der Dinge … die ekelhafteste Entartung … und diese Art Ideal als ‚Gott‘ hängen bleibend über der Menschheit“. Im Nachlaß zum „Zarathustra“ schreibt er: „Ich habe den ganzen Gegensatz einer religiösen Natur ausgelebt. Ich kenne den Teufel und seine Perspektiven für Gott.“ Gott, Teufel – darf es das für einen areligiösen Menschen überhaupt noch geben? Ja, er geht in seiner Maßlosigkeit sogar noch weiter, und zwar bis zur virtuellen Selbstvergottung: „Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich es aus, kein Gott zu sein. Also gibt es keine Götter.“ Das notwendige Werk sei Werk um der Wahrheit willen, so meint er. Aber „wieviel Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist?“ fragt er: „Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden?“ So wird Nietzsche zu einem viel radikaleren Kritiker des Christentums als etwa Voltaire, in dem er anfangs noch eine Art Vorläufer und Kampfgenossen sah. Aber „je höher die Kultur eines Menschen steigt, um so mehr Gebiete entziehen sich dem Scherze, dem Spotte. Voltaire war für die Erfindung der Ehe und der Kirche von Herzen dem Himmel dankbar: als welcher damit so gut für unsere Aufheiterung gesorgt habe … Es ist alles, was jetzt Einer auf diesem Gebiet noch witzelt, verspätet … Jetzt fragt man nach den Ursachen; es ist das Zeitalter des Ernstes“. Ob Sendung oder Selbstüberhebung – Nietzsche war von dem Exemplarischen seiner Existenz durchdrungen. In „Ecce homo“ (Warum ich Schicksal bin) geht er bis an die äußerste Grenze der Selbstauflösung: „Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen -, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissenskollision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch. Ich bin Dynamit.“ In der Tat hat Nietzsche, dieser Patient auf dem Krankenbette seines Jahrhunderts, dieser sensible Seismograph der gewaltigen geistigen, sozialen und politischen Erschütterungen an der Wende zum vorigen Jahrhundert die drohenden Erdbeben wie kein anderer vorausgespürt – mehr als vorausgesehen. Ja mehr noch: Er hat sie mit seiner eigenen Existenz durchlitten. In einem ständigen Wechsel von Regression, Aggression und Depression hat er ein Werk aus sich herausgeschleudert, das die sensiblen und hellhörigen Geister nicht nur seiner Zeit, sondern bis in die Gegenwart fasziniert, bewegt, erschüttert, allerdings auch irregeleitet hat. Einer dieser Geister, der Philosoph Martin Heidegger, sagt – und dieses Diktum ist wohl auch heute, fünfzig Jahre später, immer noch gültig: „Die Auseinandersetzung mit Nietzsche hat weder schon begonnen noch sind dafür die Voraussetzungen geschaffen. Bislang wird Nietzsche entweder belobigt und nachgeahmt oder beschimpft und ausgebeutet.“ Material genug für jeden Gebrauch oder Mißbrauch Und der Dichter Gottfried Benn identifiziert sich für seine Generation mit den Fragestellungen, die Nietzsche aufgeworfen hat: „Seine gefährliche stürmische blitzende Art, seine ruhelose Diktion, sein Sichversagen jeden Idylls und jeden allgemeinen Grundes, seine Aufstellung der Triebpsychologie …, die ganze Psychoanalyse, der ganze Existentialismus, alles dies ist seine Tat. Er ist, wie sich immer deutlicher zeigt, der weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche … Ich könnte hinzufügen, für meine Generation war er das Erdbeben der Epoche und seit Luther das größte deutsche Sprachgenie.“ Er hat sie alle beeinflußt: die Altphilologie, der er Anregungen gab, die erst viel später aufgenommen wurden, die Denker des Vitalismus und des Existentialismus, vor allem natürlich Jaspers, Heidegger, Marcuse, auch die Marxisten vor allem in Frankreich und Italien und natürlich den Faschismus, der ihn nach Kräften mißbraucht hat, aber auch die Literaten und Dichter vom Expressionismus über die Jugendbewegung, die Neuromantik, Rilke, Hesse und den Stefan-George-Kreis, den Kulturkritiker Oswald Spengler bis zu den Dichterdioskuren Ernst und Friedrich Georg Jünger, der über ihn eine der interessantesten Studien geschrieben hat. Vor allem Atheisten und Antichristen aller Couleur leihen sich aus Nietzsches reichem Arsenal die Waffen, schmieden sie willkürlich um, wobei nicht zu leugnen ist, daß er für jeden Gebrauch oder Mißbrauch Material genug bereithält. In der Schlußphase seines Wahnlebens schickte Nietzsche – außer Briefen an Ferner- und Näherstehende – Zettel an die gekrönten Häupter Europas und lud sie zu einem Fürstenkongreß nach Rom ein. Er unterzeichnet abwechselnd mit „Nietzsche Cäsar“ oder „Nietzsche Dionysos“. Seinen letzten Brief an den alten Freund Jacob Burckhardt unterschreibt er „Dionysos, der Gekreuzigte“. Und einmal schreibt er, gleichsam die Signatur einer Kapitulation: „Christus am Kreuz – das erhabenste Symbol, immer noch“. Foto: Friedrich Nietzsche (1844-1900): Zur Philosophie stilisierte Kulturrevolution, viel radikaler als Voltaire Friedrich Nietzsche: Geboren am 15. Oktober 1844 im sächsischen Röcken, sechs Jahre später Umzug nach Naumburg. Er studiert Theologie und klassische Philologie in Bonn und Leipzig. 1869 wird er als außerordentlicher Professor für griechische Sprache und Literatur an die Universität Basel berufen. Freundschaft mit Richard Wagner. Psychischer Zusammenbruch im Januar 1989. Nietzsche stirbt am 25. August 1900 in geistiger Umnachtung in Weimar. Prof. Dr. Ulrich Beer , Jahrgang 1932, ist Psychologe und Psychotherapeut.
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