Das Porträt als Bildtyp und malerische Gattung ist aus der Kunst verschwunden. Positiven Einzelbeispielen (Kokoschka) zum Trotz hat die symbolische Form selbst abgedankt: als Reflex bürgerlicher Individualitätsauffassung, humanistischer Anthropozentrik und christlicher Selbstbefragung. Auch als Medium fürstlicher Repräsentation wird das Porträt funktionslos; moderne Macht ist unpersönlich, wirkt strukturell: Konzernriesen, Militärapparate, potente Lobbys sind physiognomisch nicht darstellbar. Schließlich haben die Künste des zwanzigsten Jahrhunderts mit der realistischen Konvention gebrochen. Seit der Kubismus die natürlichen Formen sprengte, ist das Ähnlichkeitspostulat außer Kraft. „Wirklichkeit“ wird nun „dekonstruiert“ und unaufhörlich neu rekombiniert. So liegen fünfhundert Jahre europäischer Bildnismalerei als Periode geschlossen vor uns, keine Universalie, so wenig wie das bürgerliche Individuum, das zeitgleich kam und ging. Desto mehr fesseln die letzten ästhetischen Vertreter des Persönlichen unsere Aufmerksamkeit. Im eminenten Sinn gehörte zu ihnen das Ehepaar Lepsius. Was Franz von Lenbach, der „Bismarck“ im Porträtfach, in München war, darf Reinhold (1857-1922) und Sabine (1864-1942) Lepsius als Berlinern zugebilligt werden. Doch während Lenbachs Ruhm sich in unser Gedächtnis eingrub, sein Haus heute ein zentraler Anlaufpunkt des Münchner Museenquartiers ist, vergaß die Nachwelt das Berliner Künstlerpaar. Dessen Bedeutung wird jetzt erstmals in einer umfassenden Monographie gründlich gewürdigt. Diese Rehabilitation entstammt der Feder der Kunsthistorikerin Anette Dorgerloh, deren Tiefenanalyse – die sozial-, literar- und philosophiehistorische Aspekte mit der stilgeschichtlichen Erörterung verschmilzt – sich zu einer formidablen kulturhistorischen Fallstudie über das Bildungsbürgertum um 1900 ausgewachsen hat. Die Berliner Verlagspräsentation war kürzlich im Saal der „Deutsch-Römer“ der Nationalgalerie mitzuerleben: zwischen den arkadischen Utopien Marées‘, der symbolistischen Naturversponnenheit Böcklins, den heroischen Elegien Feuerbachs und klassischen Jünglingsfiguren Hildebrands. Von nebenan leuchtete der Farbreichtum der Impressionisten: Renoir, Monet, seitlich gehängt: der Leibl-Kreis und Lenbach. Dies Ambiente hätte den Gefeierten zugesagt. Sabine Lepsius‘ frühgenialisches Selbstbild von 1885, ein kultischer Blickpunkt, fügte sich hier harmonisch ein. Diesem Schlüsselwerk hat die Autorin ein umfangreiches Kapitel gewidmet. Auf dem tonigen Halbfigurstück weist die junge Künstlerin ihr Malgerät demonstrativ vor, während sie selbst, den Oberkörper leicht zurückgebogen, den Betrachter seltsam aus halb geschlossenen Lidern verschleiert anblickt. Erst eine akribische Motivanalyse hat hier eine semantische Vielschichtigkeit aufgedeckt, die Traditionen der Märtyrerdarstellung mit denen des Engels als Gnadenbringer und androgyner Ironie schillernd vernetzt und so Inspiration und Selbstheroisierung als thematische Ingredienzen des raffinierten Porträts benennt. Reinhold und Sabine Lepsius entstammten beide gutbürgerlichen Familien, die Väter: wuchtige Persönlichkeiten von wilhelminischem Zuschnitt. Carl R. Lepsius (1810-1884), prominenter Ägyptologe und Ausgräber, Direktor des Berliner ägyptischen Museums und Leiter der Preußischen Staatsbibliothek, Mitglied zahlreicher Orden und Akademien, eine “ herrschende, herrliche Natur“, residierte samt Familie in einer gotischen Villenburg, einem intellektuellen Brennpunkt Berlins. Sabine wuchs auf als Tochter des Düsseldorfer Historien- und Porträtmalers Gustav Graef (1821-1895), der in der Hauptstadt das üppige Haus eines lebensfrohen Malerfürsten führte, mit Rubensschem Überfluß an Gästen und Festlichkeiten. Wurde Sabine privat ausgebildet, so studierte Reinhold in München, war Schüler Lenbachs, Mitbegründer der dortigen Sezession (1892), wie beide dann 1898 beim Berliner Projekt. Van Dyck, Tizian, Rubens führten zum Porträtfach. Tief beeindruckten beide Künstler Studienaufenthalte in Paris, bis sie sich in Rom kennenlernten. Wirtschaftliche Unsicherheit ließ Reinhold zögern; man heiratete erst, als Sabine geradezu den Eid schwor, „mit ihrer Kunst die Finanzierung des künftigen Hausstandes zu garantieren“. So entwickelte sich eine recht „moderne“ Partnerschaft mit partiellem „Rollentausch“, in der Sabine, stabil und pragmatisch, die tragende Säule war, während Reinhold, den komplizierten Intellektuellen, schwere Depressionen heimsuchten, die seine Kreativität torpedierten. Verständlich, daß Dorgerloh „Mustern“ des Männlichen und Weiblichen in Mentalität und Werk beider nachgeht. Indes standen sie sich nah: Berliner Sezessionisten beide, reflektierte ihr malerischer Duktus die impressionistische Stilform individuell. Sabines helle Leichtigkeit, skizzenhafter Auftrag, rascher und breiter Pinselstrich transportieren die Pleinair-Auffassung durch die zwanziger und dreißiger Jahre. Dagegen Reinhold, ein „Geniesucher“, geradezu faustisch seine Porträts ausarbeitend: ein Nuancenstil, dessen subtile Ausdruckswerte und farblichen Valeurs den Persönlichkeitskosmos des Modells auszuschöpfen suchten. Das „Subjekt als Vielheit“ und doch eine Einheit erzeugte hier das „nervöse Bildnis“. Lepsius‘ Spezialität wurden Gelehrtenporträts, deren exquisites Schillern Intimität mit Repräsentation, psychologische Sphärenmusik und verhaltener Monumentalität vereinte. Beide huldigten einer „Stimmungskunst“, deren polyphones Ausdrucksspektrum und atmosphärischer Zauber Tradition und Moderne intelligent zu verbinden suchten. Überhaupt war der kulturelle Reichtum dieser Übergangsmenschen ohnegleichen. Ihr elitärer Salon konnte so zu einem kulturhistorischen Phänomen ersten Rangs werden, paradigmatischer Ort lebensphilosophischen Ésprits. Köpfe wie Georg Simmel, Wilhelm Dilthey, Lou Andreas-Salomé oder Walther Rathenau fanden hier ein gemeinsames „Diskursmilieu“. Eine exotische Freundschaft verband das Paar mit Stefan George, der im Salon erstmals Gedichte las, was ihn in Berlin bekannt machte, doch schon früh mit der Aura des Esoterischen umgab. Sieben Kapitel widmet ihm die Autorin. Entfremdung trat erst mit dem „Maximin-Erlebnis“ (1904) ein, dessen Sakralisierung den Salon sprengte. Seitdem wirkte George als „Ordensgründer“: Sein geistiger „Staat“ und kultischer Männerbund, „ein End und ein Beginn“, waren nicht mehr harmonisierbar mit dem kostbaren Lebensstil der spätbürgerlichen Familie – getrennte Welten. Sabines Kindererziehung, Musik, Frauenemanzipation lehnte der „Meister“ ab. Das Paar wurde zunehmend isoliert. Diese Marginalisierung schrieb die spätere Kunstgeschichte fort, der bis heute, Liebermann, Slevogt und Corinth als eiserne „Troika“ des deutschen Impressionismus gelten. Soziologisch verdeutlicht Dorgerloh, wie sehr die Kräfteverhältnisse, vulgo Strippenzieher und Platzhirsche des Kunstmarkts, auch unsere retrospektive Sicht prägen. Im Fall Lepsius hat das Mißverhältnis zur tonangebenden Fraktion von Galeristen und Publizisten deren Erfolg behindert, zudem die „Allmacht Liebermanns“ in der Öffentlichkeit „alle disponible Kunstgesinnung geschluckt“ habe, wie Sabine klagt. Der Avantgarde mochten beide sich nicht anschließen, sie blieben künstlerisch dem 19. Jahrhundert verhaftet, auch mit der Idee der „Kunstreligion“: In der modernen, zwischenmenschlichen Entfremdung, schrieb Freund Simmel, werde allein das Kunstwerk „ganz unser“. Nur die Kunst vermöchte noch, wie früher der Gottesglaube, „ein absolut für sich existierendes Sein zum innersten (…) Besitztum der Seele zu machen“. Zahlreich hat Anette Dorgerloh schriftliche Quellen erschlossen und ausgewertet, dazu vielen im Krieg verschollenen Bildern nachgeforscht, die sie hier fotographisch dokumentiert. Alles in allem ein facettenreicher Rückblick auf die „bürgerliche Denk- und Lebensform“. Anette Dorgerloh: Das Künstlerpaar Lepsius. Zur Berliner Porträtmalerei um 1900. Akademie Verlag, Berlin 2003, 305 Seiten, gebunden, 49,80 Euro Sabine Lepsius (an der Staffelei) mit Schülerinnen: Rückblick auf bürgerliche Denk- und Lebensform