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Irrungen und Wirrungen

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Wenn Friedrich Dieckmann recht hat mit seiner Meinung, daß die Frage „Was ist deutsch?“ stets in Not-, Krisen- und Umbruchzeiten um sich gegriffen habe, dann mögen die Leser seiner unter diesem Titel versammelten Aufsätze die Krisenhaftigkeit der gegenwärtigen Lage Deutschlands daran ermessen, wie bohrend Dieckmann eben dieser Frage nach dem Deutsch-Sein nachgeht. Daß es ein aus Mitteldeutschland stammender Schriftsteller ist, der die Frage aufwirft und die Kategorien einer Antwort entwirft, spricht bereits für sich. Nationalerkundungen wie die von Dieckmann werden im westlichen Teil der Republik, der alten Bundesrepublik, bestenfalls noch von jenen vorgenommen, die 1989/90 die deutschen demokratischen Revolutionäre und den Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur feierten. Dagegen liegt die Definition dessen, was deutsch sein könnte, außerhalb des von Dieckmann erwähnten, schmalen Korridors des politischen Korrekten, der gerade von der gegenwärtigen 68er-Nachfolger-Generation penibel eingehalten wird. Jutta Ditfurth und Angelika Beer demonstrierten 1990 in Frankfurt mit der Banderole „Nie wieder Deutschland“, während die 16 Millionen ehemaligen DDR-Bürger bereits begannen, es sich im neu entstandenen deutschen Nationalstaat einzurichten. Das Unbehagen mit dem Nationalen haben die Grünen auf eine ganze Generation zu übertragen vermocht und damit dem Konglomerat aus einer im Grunde entgrenzt individualistischen Einstellung mit hedonistisch-amerikanisierten Zügen eine fabelhafte Verkleidung verliehen. So ist der Sinn des Nationalen in der alten Bundesrepublik verkommen. Hat etwa die deutsche Seele über die Jahrzehnte nur in der DDR überwintert? Man könnte geneigt sein, dies anzunehmen, wenn man die westliche Abstinenz in Demonstrationen nationalem Bewußtseins mit der intensiven Suche nach der „condition allemande“ vergleicht, die neben dem Autor manch anderer Mitteldeutscher – wenn auch nicht mit derselben insistenten Kontinuität – unternommen hat. Dieckmann läßt eingewanderte „Neu-Deutsche“ im heutigen Deutschland zu Wort kommen. Daß durch deren Zeugnisse nicht ermittelt werden kann, was der deutsche Volkscharakter denn wohl heute, früher oder morgen sei, liegt nicht nur auf der Hand. Vielmehr spiegelt sich in diesen bunten Pauschalurteilen die Erkenntnis, daß das Suchen nach dem spezifisch Deutschen im Sinne eines überzeitlichen nationalen Wesenszugs wohl in der Sackgasse enden muß. Daher begibt sich der im ostbrandenburgischen Landsberg an der Warthe Geborene an einer Stelle auf den Suchpfad zurück, die zwar historisch eng mit dem Werden des deutschen Nationalbewußtseins zusammenhängt, aber zugleich unbestreitbar überzeitliche Kriterien enthält: der deutsche Idealismus mit seinem philosophischen Protagonisten Kant und dem Dichterfürsten Schiller. Dieser Ausgangspunkt der Überlegungen des Literaten liefert jene Kategorien, die die Definition Deutschlands als Kulturnation einst vorbereiteten. Daß „die Majestät der Deutschen nie auf dem Haupt seiner Fürsten ruhe“, wie einst der Schöpfer dieses Postulats, Schiller, fabulierte, leitet bei ihm zu jener kulturverheißenden National-Definition über, bei der nur die Zitate jener Auslanddeutschen als störend empfunden werden, die zwar über deutschsprachige Veröffentlichungsplattformen verfügen, aber nichtsdestoweniger unser Land kaum aus eigener Anschauung kennen. Wer von deutscher Kulturnation spricht, der kann nicht die RTL-LightKultur meinen. Mehr noch: Der muß -und Dieckmann tut dies – das Versagen der deutschen Schule bei ihrer Kultur- und Bildungsaufgabe feststellen. Sein Unbehagen an der Unkultur der deutschen Schulen geht so weit, den Schaden zu melden, den allein die deutsche Sprache aufgrund dieses schlimmsten aller deutschen Defizite genommen habe. Was also deutsch zu sein heute bedeute, bemesse sich an dem, was an deutschen Schulen in deutscher Sprache gelernt werden solle. Dort müsse ein „consensus omnium“ herrschen über das, was mit Fug und Recht „deutsche Kultur“ und nicht etwa „Kultur in Deutschland“ genannt werde. Wie das im föderalistischen Deutschland funktionieren solle, diese Frage bleibt Dieckmann dem Leser schuldig. Die Kultusministerkonferenz – jenes Synonym für föderale Anarchie – würde doch in panisches Entsetzen ausbrechen, wenn die institutionellen Konsequenzen aus Dieckmanns Ansätzen gezogen würden. „Education Nationale“, also ein für alle deutschen Schulen abgestimmter Kanon von Kernfächern, der die Schulen in Wettbewerb zueinander zur Erreichung dieses nationalen Bildungsziels setzt, ist für die Kultus-Präfekten der Länderfürsten reine Blasphemie. Sie ziehen es vor, ihren Beitrag zur Sprachbesinnung durch eine Rechtschreibreform zu leisten, die bestenfalls als Gegenstand satirischen Gespötts dienen konnte. Bleibt die Suche nach dem Volkscharakter eine bereits überwiegend untaugliche Fragestellung und nähert man sich erst beim Versuch einer kulturnationalen Definition des Deutsch-Seins überzeitlichen Kategorien, so führt die Suche nach dem Deutsch-Sein in politischer Hinsicht zur Rolle der Deutschen in der jeweiligen Epoche zurück. Hier hätte man sich vertiefte Ausführungen des interdisziplinär so versierten Autors gewünscht. Denn im Zeitalter ungestümer europäischer Integration und ungebremster Souveränitätsverzichte ist der Hinweis auf das Legitimitätsdefizit der Währungsunion aufgrund mangelnder Volksabstimmung sowie die wiederholte Feststellung der deutschen Mittellage erst der Anfang zu jener reflektierten Rollenbestimmung, die bisher von einer politischen Klasse verweigert wird, bei der weiterhin nur das als gut gilt, was europäisch ist. Daß indessen bei der Definition des Europäischen gerade die deutschen Politiker und Beamten alles daransetzen, die letzten deutschen Spurenelemente in der europäischen Konstruktion zu beseitigen, müßte eigentlich lebhafte Reaktionen in Deutschland hervorrufen. Dies ist allerdings nicht der Fall und beruht einerseits auf geschickter diplomatischer Tarnung der französischen Hegemonie im Brüsseler Gewande, zum anderen aber auf dem vorauseilenden Gehorsam deutscher Beamter und Politiker gegenüber dem verbreiteten Wunsch, das Werden Europa hänge von unserer Bereitschaft zur Selbstaufgabe ab. Daß diese offizielle Abdankungspolitik bisher keine Revolte bei den Deutschen ausgelöst hat, hängt vielleicht damit zusammen, daß es für das politische Deutsch-Sein lange Zeit an Maßstäben fehlte. Dieckmann hat mit seinen versammelten Einsichten einen wichtigen Impuls gegeben. Gelingt es ihm, nicht nur die Kultusbürokraten der deutschen Länder zu provozieren, sondern auch die politische Klasse aufzurütteln, um eine öffentliche Debatte darüber auszulösen, was es heute bedeutet, „deutsch zu sein“, so wäre sein Verdienst um das „Zusammengewächshaus Deutschland“ beachtlich. Jedenfalls ist sein Beitrag zur Nationalerkundung ein Beleg für jene Innerlichkeit, von der Thomas Mann einst meinte, sie sei „die schönste Eigenschaft, auch seine berühmteste“ in der Seele der Deutschen.

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