Zug für Zug richten sich die Deutschen darauf ein, daß es immer schlimmer wird. Die Preise steigen, die Ausgaben wachsen, die öffentlichen Einrichtungen verwahrlosen, das Kulturleben verlangweilt, der Konformismus droht alles zu ersticken. Und keine Besserung ist in Sicht. Die Regierung ist miserabel, die Opposition kleinmütig, die ganze politische Klasse taugt nichts. Läßt sich so etwas auf Dauer aushalten? Kann man ohne Hoffnung leben, ohne darüber in blanken Zynismus zu verfallen? Nun, zunächst einmal hält man nach Propheten Ausschau, die einem das ganze, gleichsam kosmische Ausmaß der Misere zeigen und Ursachen dafür nennen, nach „schwarzen Propheten“, die ihren Blick nach rückwärts statt nach vorwärts richten. So mag sich das neu erwachte Interesse an Gestalten wie Ludwig Klages erklären, der im Buchwesen eine zwar langsame, aber offenbar unaufhaltsame Renaissance erfährt. Neuestes Produkt dieser Renaissance ist das im Telesma-Verlag in München erschienene Buch „Ludwig Klages. Lebensphilosophie als Zivilisationskritik“ von Reinhard Falter, einem ehemaligen Vorkämpfer der Grünen, der sich im Zorn von seinen einstigen Kampfgefährten abgewandt hat. Klages (1872-1956), Fabrikantensohn aus Hannover und promovierter Chemiker, erfuhr seine geistige Sozialisation im München der „Belle epoque“, im Banne von Stefan George und der sogenannten „Kosmiker“, deren herausragender Repräsentant er alsbald wurde. Seine große Jugendliebe war Franziska zu Reventlov, die berühmte „femme fatale“ der damaligen Münchner Bohème, in deren Tagebüchern er eine bedeutende Rolle spielt. 1915 siedelte er in die Schweiz über, wo er bis zu seinem Tod in Kilchberg bei Zürich als Privatgelehrter wirkte, in scharfer Distanz zu den wechselnden Moden des Zeitgeists und ihnen dennoch leidenschaftlich verbunden, Schule bildend, Feindschaften weckend, Auseinandersetzungen provozierend, viele Wissensgebiete von Grund auf befruchtend, so die Ausdruckskunde, die Charakterkunde, die Graphologie. Alle haben von ihm gelernt, Max Scheler wie Walter Benjamin, die Psychiater Hans Prinzhorn und Viktor von Weizsäcker wie die politischen Theologen Carl Schmitt und Georg Lukács, aber auch Theodor W. Adorno, Karl Löwith, Walter F. Otto und viele andere. Es ist nicht das geringste Verdienst des Buches von Falter, all diese Genealogien penibel offenzulegen und ihre Folgen für Politik und Geistesleben nachzuweisen. Heutige philosophisch-ökologische Schulen wie die der Philosophenbrüder Gernot und Hartmut Böhme oder der Naturschützer G. H. Schwabe und Reinhold Weimann, so Falter, wären ohne den ständigen Rückbezug auf das Werk von Klages gar nicht möglich. Was später, Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, bei Adorno und Horkheimer „Dialektik der Aufklärung“ erschien und politisch instrumentalisiert wurde, findet sich bereits bei Klages am Anfang des Jahrhunderts in voller Ausführlichkeit ausgebreitet; selbst der Terminus „Dialektik der Aufklärung“ stammt von ihm. Im wissenschaftlich-technischen Zugriff des modernen Menschen auf die Natur und auf sein eigenes seelisches Inneres sah Klages den großen Sündenfall der Neuzeit und den Keim allen sozialen Unheils. Sein Hauptwerk trug den programmatischen Titel „Der Geist als Widersacher der Seele“. Unter „Geist“ verstand er das ausschließlich rechnende, auf Be- und Vernutzung ausgerichtete Kalkül-Denken. Unter dessen Zugriff verwandle sich die lebendige, „allbeseelte“ Natur in einen toten, nur noch mechanisch in Gang setzbaren Maschinenpark. Der wirkende „Geist“ schaffe nur noch Leichen um sich herum und werde darüber am Ende selber zum lebenden Leichnam, einem energielosen Bündel, das gar nicht mehr fähig sei, auf neuartige Lagen angemessen zu reagieren, Die Prosa des Ludwig Klages ist wuchtig, farbenreich und im genauen Sinne des Wortes prophetisch. Man lese etwa folgende Sätze: „Indem der Geist als Wille nach außen bricht, vollbringt er durch seinen Büttel, den herakleischen Menschen, an der Erde dasselbe Werk: er verstopft ihre Poren, raubt ihr die Atemluft, unterbindet ihren Austausch mit dem Kosmos. Rodung der Wälder, Ausrottung freilebender Tiergeschlechter, Geländeentwässerung, Regelung und Vergiftung der Ströme, Ausbeutung und Vertilgung aller Schätze des Bodens …“ Geschrieben im Jahre 1911. Ihre düstere Krönung erfuhr die Prophetie von Klages in einer neuartigen Theorie der Zeit. Die Zukunft, meinte Klages, sei „keine Eigenschaft der wirklichen Zeit“. Unser primäres und konkretes Zeitgefühl richte sich auf real Seiendes und mithin Vergangenes; reale Zeit sei lebendiges Gespräch der Gegenwart mit Gestalten der Vergangenheit. Erst der ewig mit leeren Formeln und materiellen Nutzungsmöglichkeiten kalkulierende Geist der Moderne habe das natürliche Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit ausgedörrt, sie dem „Giftwind“ der Zukunft ausgeliefert. Ist Klages selbst für die gegenwärtige Situation irgendwie „nutzbar“? So zu fragen, verstieße bereits frontal gegen den Geist seines Schaffens. Das Gespräch mit ihm zu suchen, sich von ihm belehren und in seelische Lichtungen führen zu lassen – dagegen hätte er nichts einzuwenden gehabt, im Gegenteil. Doch Gebrauchsanweisungen wollte er nicht liefern, weder für die Lösung ökologischer Streitfragen noch gar für ein Sichzurechtfinden im aktuellen Reformstau. Für eine „Re-Form“ im genauen Sinne des Wortes war es seiner Meinung nach ohnehin zu spät. Alles, was noch möglich sei, sei eine Haltung charaktervollen „Gespanntseins“ angesichts des Erfahrbaren und des Abzuweisenden. Aber ist denn so etwas überhaupt möglich: Gespanntsein im Bewußtsein der Vergeblichkeit jeglichen sinnvollen Handelns? Hier zeigt sich die fundamentale Schwäche des Klagesschen Pessimismus. Selbst sein Adlatus Falter muß einräumen: „Klages‘ große Gefahr ist, in eine Haltung des Wissens zu verfallen, die nicht mehr offen ist für das je Begegnende, sondern es schubladisiert, wie dies die neuzeitliche Wissenschaft, aber auch der esoterische Gnostizismus tun.“ Er hätte noch den leeren Kritizismus à la Adorno hinzufügen können, der ja – uneingestandenermaßen – seine Wurzeln nicht zuletzt im Werk von Klages hat. Beides, Kritizismus à la Adorno wie Geist-Pessimismus à la Klages, sind in der Tat neuzeitliche Formen jenes Gnostizismus, der sich seit der Antike epochenweise immer wieder bemerkbar machte und der auf eine totale Weltverneinung hinausläuft. Man kann von den Gnostikern viel lernen, besonders über die engen Grenzen, die jedem menschlichen Wollen, auch jeder strengen Begriffsbildung und jeder hochgemuten Weltzubereitung gesetzt sind. Aber über Formen notwendiger Grenzüberschreitung, ohne die doch kein wahrhaft Existierender hier auf Erden leben kann, muß man sich anderswo informieren. Foto: Ludwig Klages (M.) mit Karl Wolfskehl, Alfred Schuler, Stefan George und Albert Verwey (1902): Wider den „Giftwind“ der Zukunft Reinhard Falter: Ludwig Klages. Lebensphilosophie als Zivilisationskritik. Telesma Verlag, München 2003, 167 Seiten, 16,80 Euro
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