Ob Wehrmachtsausstellung oder Globalisierungsdebatte, Denkmalkultur oder Geschichtspolitik, das deutsch-amerikanische Verhältnis oder Kanzler Schröders „deutscher Weg“: es gab so viele Themen und Anlässe in den letzten zehn Jahren, bei denen man seine leidenschaftliche Stimme, seinen ungewöhnlichen Kommentar, seinen mutigen Auftritt vermißte. Ein wahrer Polyhistor, mit der ganzen Spannweite seines Fachs, der Geistesgeschichte, alles andere als professoral, belesener und gebildeter, als es ein Professor für Mittlere und Neuere Geschichte jemals sein mußte, mutig auch schon vor der Pensionierung, war Hellmut Diwald eine außergewöhnliche Erscheinung. Seine Bücher wurden Bestseller, auch weil sie anders, blutvoller und lebendiger, feinnerviger und spannender geschrieben waren als die fast aller seiner Kollegen. In seinem Wesen schwangen die Herzlichkeit und scheinbare Leichtigkeit der süddeutsch-österreichisch-böhmischen Lebenswelt, der er entstammte. Geboren 1924 im mährischen Schattau, aufgewachsen im tschechisch-deutschen Prag und in Nürnberg, machte er als Soldat in Frankreich das Kriegsabitur, studierte danach Maschinenbau und wurde Ingenieur. Doch die Technik war ihm nicht realistisch genug, er begann ein neues Studium: Geschichte und Philosophie – weil er von der Geschichte Antwort auf Fragen erwartete, die ihm für sich und für die Deutschen dringlich wurden. 1952 promovierte er bei dem deutschnationalen Juden Hans-Joachim Schoeps, entschloß sich, bei der Universität zu bleiben, habilitierte sich und wurde an der Universität Erlangen Dozent. Zwei Jahre später begegnete ich ihm zum ersten Mal – als Student. Er las über „Die linken Bewegungen. Teil 1. Der Nationalsozialismus“ – oder so ähnlich. Der Nationalsozialismus links? Deswegen war ich dort. Das ließ einiges erwarten. Mit offenem Mund hörten wir zu. Da waren Geist, Kühnheit, Idee, Leben. Schwingungen gingen von ihm aus, das Moment des Ungewöhnlichen. Ein Feuerkopf faszinierte uns, ein verzehrendes Feuer brannte in ihm. Ein Romantiker? Ein neuer Kleist-Eichendorff-Byron-Keats? Und ein Idealist, ein Arndt? Der Kontrast konnte nicht schärfer sein zu all der entgeisteten „Demokratischen Staatsbürger-Bildungsarbeit“, die wir als „DSBBA“ verhöhnten, und die in Politik und Zeitgeschichte der verbreitete universitäre Standard war. Doch als Historiker begab er sich zunächst in die harte und stille Zucht der Quellenedition, edierte in zwei Bänden den Extrakt aus dem Nachlaß des christlich-konservativen Politikers von Gerlach, der Bismarck bis zum Bruch im Jahr 1866 nahegestanden hatte. Die Edition etablierte ihn in der Zunft, doch blieb er ihr fremd, blieb immer Einzelgänger, auch als er 1965 zum Professor für Mittlere und Neuere Geschichte berufen worden war. Jetzt setzte Hellmut Diwald zu großen Schritten an. 1969 die Biographie „Wallenstein“, zwei Jahre vor dem Buch Golo Manns, und auf Anhieb ein großer Erfolg. Der beleidigte Mann hat ihm das in bizarrer Ranküne später heimgezahlt. 1975 der Eröffnungsband der „Propyläen-Geschichte Europas“, „Anspruch auf Mündigkeit“ (1400 bis 1555), für mich das gelungenste Buch Hellmut Diwalds, und auch von der Kritik verzückt gepriesen. Allen war klar, daß ein neuer strahlender Stern am Historikerhimmel aufgegangen war. Durch seine häufige TV-Präsenz wurde er auch dem breiten Publikum bekannt, zum Beispiel durch den ZDF-Geschichts-Siebenteiler „Dokumente deutschen Daseins“ von Wolfgang Venohr und mit Sebastian Haffner. Die Semidokumentation machte deutsche Geschichte ohne politische Indoktrination (Guido Knopp hatte damals noch nichts zu melden!) und ohne Effekthascherei lebendig. Mit seiner 1978 im Springer-eigenen Propyläenverlag erschienenen „Geschichte der Deutschen“ lernte er schmerzhaft kennen, wie sich in der Bundesrepublik der Globus dreht. Das Buch war ein großer Wurf, die erste deutsche Gesamtgeschichte aus der Feder eines Zunfthistorikers nach Veit Valentins in der Emigration geschriebenem Werk von 1946. Diwalds Herangehensweise war ungewohnt. Er schrieb „gegenchronologisch“ und aus einer „deutschen Position“ heraus. Er setzte nicht im 10. Jahrhundert ein, sondern im geteilten Deutschland der 1970er Jahre. Und er wollte dem Pessimismus der gängigen Geschichtsauffassung entgegentreten, die Zwangsvorstellung korrigieren, die deutsche Geschichte erkläre sich von „Auschwitz“ her. Das Buch wurde ein riesiger Verkaufserfolg, lange auf der Bestsellerliste des Spiegel. Im gleichen Blatt wurde er in perfekter Abgefeimtheit demontiert. Einige Absätze seines Buches, die sich vorsichtig-kritisch mit dem Thema der deutschen Konzentrationslager und der sogenannten „Endlösung“ befaßten, machten Diwalds Gegner zum Casus belli. Ausgerechnet Spiegel-Kulturchef Georg Wolf, einst Offizier im SD des Reichsführers SS, markierte mit dem ersten Schuß das Ziel. Intimfeind Golo Mann legte gerne nach. Die „Stellen“ in Diwalds Werk, so lamentierte er, seien „das ungeheuerlichste“, was er „seit 1945 in einem deutschen Buch“ habe lesen müssen. Auch der Stuttgarter Professor Jäckel, der 20 Jahre später die deutsche Ausgabe von Finkelsteins „Holocaustindustrie“ verhindern und die deutschen Historiker zur Selbstzensur veranlassen wollte, verlangte damals von Diwalds Verlag, das Buch vom Markt zu nehmen. Springers bester Mann, Welt-Chef und brillanter Geschichtsdenker Peter Boenisch, distanzierte sich mit einem 20-Zeiler von dem bis vorgestern geschätzten Interviewpartner und Autor. Der Eklat war da, und der Star Diwald war in ein irritierendes Licht getaucht, das Kulturestablishment der BRD schnitt ihn sofort, so als hätte es ein neuer Joseph Goebbels in der „Reichspressekonferenz“ befohlen. Diwald, der sich zu einer „Korrektur“ der „Mißverständnisse“ nötigen ließ, setzte sich später in „Mut zur Geschichte“ mit diesen Praktiken der Zensur auseinander und warf vielen seiner Zunftkollegen zu recht Einseitigkeit, Opportunismus und Feigheit vor. Auch was „danach“ aus Diwalds Feder kam, ist außergewöhnlich und hat Bestand, seine Biographien über Martin Luther und sein beinahe szenischer „Heinrich I“. Doch das von ihm durchaus geschichtspolitisch intendierte Fortschreiten auf dem Weg, der mit der „Geschichte der Deutschen“ begonnen worden war, blieb ihm verwehrt. Foto: Hellmuth Diwald (1924-1993): Provozierte die BRD-Kultureliten Dr. Günther Deschner , Historiker und Publizist, arbeitete zehn Jahre lang als Journalist bei der Tageszeitung „Die Welt“. Später verlegte er als Verlagsgeschäftsführer mehrere Werke von Hellmuth Diwald.