Lasset uns frohlocken im Herrn, Geliebteste, und jubeln in geistlicher Freude, weil uns aufleuchtet der Tag der Erlösung, der Wiedergutmachung alter Schuld, der Tag des ewigen Glücks!“, wie der heilige Papst Leo der Große im 5. Jahrhundert den Christen zum Weihnachtsfest zurief. Sie glauben durch die Jahrhunderte, daß an diesem Tag der Retter, der Erlöser, der Christus in die Welt als Geschichte eintrat, dessen Königtum kein Ende nimmt. Alles, was der Mensch schafft, Staaten, Reiche, Kulturen oder Zivilisationen, sind dem Untergang geweiht. Der Zeit entrückt ist allein der Mensch, das Ebenbild Gottes, der in die Ewigkeit, in das Reich ohne Ende findet, wenn er sich ganz Jesus als dem Christus anvertraut. Bislang galten vielleicht das Römische Reich, Kunstwerke oder heroisierte, vergöttlichte Caesaren als unsterblich. Sie büßten von nun an ihren hervorragenden Rang ein. Selbst der geringste unter den Sterblichen kann sich verewigen, eben über die Gnade Gottes zum ewigen Leben finden. In der Heiligen Nacht waren es die Armen, die Hirten auf dem Felde, die zuerst die frohe und befreiende Botschaft vernahmen und sie verkündigend unter die Leute brachten. Die Mächtigen, wie Herodes, ergriff die Angst vor diesem neuen Königtum, das ihre Herrschaft herausforderte und entmachtete. Mit dem Schrecken des Herodes beginnt die Tragödie der Mächtigen und Machtgebilde auf Erden. Denn die Macht ist nun da, an der sie zerbrechen, das Reich und die Macht des Wortes Gottes, das über ihnen steht, sie zur Verantwortung zieht, über sie richtet. Die Weltgeschichte ist seither Heilsgeschichte. Die Heiligen Drei Könige folgten dem neuen Stern, der neuen Botschaft, ordneten sich willig der neuen Ordnung ein. Doch ihr Beispiel hebt nicht den unversöhnlichen Widerspruch auf zwischen weltlicher Herrschaft, auch der, die sich auf Gott beruft, und dem Reich Gottes, das nicht von dieser Welt ist, aber sie dennoch umfaßt und durchdringt. Seit der Heiligen Nacht besteht ein unversöhnlicher Widerspruch zwischen der Welt als Geschichte und der in sie eingegangenen Wahrheit. Die Armen und Machtlosen muß das nicht weiter bekümmern. Ist die Welt voller Täuschung, von der Sonne Satans geblendet, liegt Apperzeptionsverweigerung nahe, der Rückzug aus verwirrenden Gegenwarten, um sich der Klarheit des göttlichen Wortes zu öffnen. Das Mensch gewordene Wort verlangt ein tätiges Christentum, aus Nächstenliebe und Fürsorge. Denn Christ kann keiner allein und für sich sein, sondern nur in der Gemeinschaft, in der Communio zusammen mit anderen, eben in der Heiligen Kirche. Aber Christus, der eine vita activa als lebendiges und belebendes Wort führte, hielt doch die Vielgeschäftigkeit für überhaupt nicht empfehlenswert. Er erinnerte die umtriebige Martha daran, auszuruhen, zu hören, zu lauschen, sich Zeit für das Wort Gottes zu nehmen, um dessen Wirklichkeit zu begegnen. Das Christentum, der Neue Bund, konnte nicht das aufheben, was im Alten Bund als Fluch über die Menschen verhängt war: die Arbeit. Der Mensch muß arbeiten, aus Notwendigkeit, um nicht zu verhungern, zu erfrieren oder zu verdursten. Die Erniedrigungen durch Arbeit gehören zum Elend des Ebenbildes Gottes als „König im Exil“. Aber er ist auch zur Freiheit berufen, zur Freiheit in Gott, der als Allmächtiger der Freie schlechthin ist. Frei ist der Mensch nur, wenn er sich über die Zwänge des Notwendigen erhebt und sich Gott betrachtend zuwendet, dem Gott, der die Wahrheit und Schönheit ist. Dafür braucht der Mensch Zeit. Sei es, um allein sich und den Wissenschaften zu leben, den Wissenschaften, die zur Wissenschaft von Gott anschaulich verhelfen, sei es, um festlich mit anderen die Glaubensgewißheiten zu feiern und sich darüber ihrer rettenden Kraft zu versichern. Zeit verschwenden kann in diesem Sinne nur jener, der die Zeit als rettendes Mittel vergißt und nicht mit ihr wirtschaftet. Es gibt nämlich auch eine göttliche Ökonomie, die Zeit aufzukaufen, um reif und fähig die Kontemplation, für das Wirkenlassen des göttlichen Seins zu werden. Solche christlichen Erwartungen erweiterten herkömmliche Vorstellungen der Römer und Griechen von Muße, Freiheit, Selbstbewußtsein, seelischer Heiterkeit und beruhigter Selbstgenügsamkeit. Der Heilige Hieronymus im Gehäuse, wie er Deutschen meist über Dürer vertraut ist, war gleichsam der Inbegriff christlicher Wissenschaft als „Wissenschaft“ von Christus, vornehmlich Sich-Selbst-Lebens und Sich-Selbst-Findens in Christus, ohne den Zusammenhang mit der Offenbarung des göttlichen Schönen in der Kunst, über Vergil oder Horaz, zu verlieren. Die christlich-ästhetische Existenz der vita solitaria schien eine freie Variation des philosophischen Lebens, fern vom Lärm der aufgeregten, nichtigen Zeit zu wiederholen. Der philosophische, der denkende Mensch wußte seit Sokrates, daß die Welt ihn ablenkt, daß deren Geschäftigkeit ihm Zeit raubt, daß der Mensch, der politisch lebt und sich um öffentliche Wirksamkeit bemüht, seine Zeit verliert und damit sich selber. Wer sich wirtschaftlich nützlich machte, an Gewinn und Vorteil dachte, in Arbeit und Leistung ein erfülltes Leben suchte, bestätigte nur, von der Schönheit der befreienden Ideen unberührt zu sein und seine Bestimmung zu verfehlen. Solche Anschauungen widersprechen unmittelbar dem ökonomischen Denken, das von der Macht des immer beweglichen, arbeitenden Geldes geprägt, arbeitsfreie Zeit als leere verwirft. Wenn Zeit Geld ist, dann erweist sich als saumselig, wer sie nicht sorgsam verwertet, mit ihr wuchert, um sich davor zu schützen, Nachteile zu erfahren. Der alte Goethe beobachtete kurz vor seinem Tod, wie fast alle aufgeregt im Denken und Tun vom Zeitstrudel fortgerissen wurden, ohne sich selbst noch zu kennen. Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Erleichterungen beschäftigten die Gemüter. Ihm fiel es schwer zu begreifen, wie die hastig lebenden Berliner, grenzenlos genießend und sich grenzenlos zerstreuend, überhaupt ihr Leben meisterten. Er mißtraute dem Berliner, dem modernen „Tempo“. Das war ihm als veloziferisch unheimlich. Velocitas und Luzifer, Geschwindigkeit und die Rebellion gegen Gott, verknüpfte er miteinander. Die infernalische Beschleunigung brachte den zum Schauen bestellten Menschen um seine schönste Möglichkeit: „Am Sein erhalte Dich beglückt“. Ähnliches meint die ruhige Annäherung an den splendor veritatis, an den Glanz der Wahrheit, der zuerst die Hirten auf dem Felde erhellte. Vielen geht es mittlerweile wie Goethe, die dringend nach einer Entschleunigung verlangen, nach dem Menschen angemessenen Zeitmaßen, damit in der Zeit nicht die Hoffnung verlorengehe, die mit Weihnachten verknüpft ist: Frieden auf Erden unter den Menschen, die der Gnade Gottes ihre Zeit lassen.