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Dämonie der Sinne

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ODeutschland! Land im Sterben!“ Dies war der Eindruck, den der Franzose Lucien Rebatet hatte, als er Ende 1944 mit der Reichsbahn von Sigmaringen nach Berlin fuhr. Dabei fiel ihm der Titel seines 1942 erschienenen Bestsellers „Les Décombres“ (Die Trümmerhaufen) ein: „Ich habe ‚Les Décombres‘ geschrieben, als ich an das geschundene, aus den Fugen geratene Frankreich dachte. Und nun befinde ich mich mitten in den deutschen Trümmern, die noch um vieles schrecklicher sind.“ Lucien Rebatet war ein Freund Deutschlands, einer jener französischen Schriftsteller wie Montherlant, Céline, Drieu La Rochelle, Brasillach, die für eine Kollaboration des 1940 besiegten Frankreich mit der deutschen Siegermacht eintraten. Man könnte den antidemokratisch und antisemitisch eingestellten Rebatet, dessen 100. Geburtstag am 15. November ansteht, dem Vergessen anheimgeben, wenn er nicht ein überaus gewandter Stilist, ein beeindruckender Romanschreiber, ein kenntnisreicher Film- und Musikkritiker und ein achtenswerter Wahrheits- und Gottsucher gewesen wäre. Als Sohn eines sozialistisch orientierten Notars und einer fromm-katholischen Mutter in Moras-en-Valloire (Drôme) geboren, besuchte Rebatet ein Collège der Maristenpatres, das er mit einer antichristlichen und antiklerikalen Einstellung verließ. Während seines Universitätsstudiums in Lyon (Jura) und Paris (Philosophie; Abschluß: Lizentiat) wurde der junge Antiklerikale zum Agnostiker. Der Wehrdienst führte den Sympathisanten der „Action Francaise“ (AF) ins französisch besetzte Rheinland nach Koblenz und Diez/Lahn. Hatte er schon als Bewunderer deutscher Philosophie (Nietzsche!) und Musik (Wagner!) den blinden Deutschenhaß des AF-Chefs Charles Maurras nicht teilen können, so kam das, was er aus dem heimatlichen Milieu an Vorurteilen gegen die „Boches“ mitbrachte, beim persönlichen Kennenlernen deutscher Menschen ins Wanken. 1929 begann Rebatet seine journalistische Tätigkeit als Musik- und Filmkritiker; in den dreißiger Jahren politisierte er sich als Redaktionsmitglied der AF-Zeitung Je suis partout immer stärker. Er war kein Kritiker mit Scheuklappen, da er sich schon als Student in Paris allen modernen Strömungen in Literatur, Kunst, Musik und Filmschaffen geöffnet hatte. In politischer Hinsicht fühlte er sich unter den AF-Anhängern als ein „Häretiker“: die Wiedereinführung der Monarchie hielt er für eine Schimäre, eine scharf antikapitalistisch-revolutionäre, europäisch orientierte Einstellung verband er mit einer Bewunderung für die Person und den Staat Mussolinis. Dem NS-Staat begegnete Rebatet mit zunehmender Sympathie. Zwischen 1934 und 1938 unternahm er sechs Reisen nach Deutschland, um sich ein eigenes Bild von dem zu machen was er als die „Wiedergenesung“ einer Nation empfand. Diese Eindrücke verschärften seinen Schmerz über die „Dekadenz“ Frankreichs. Vor und nach der Münchner Konferenz von 1938 war Rebatet ein Friedenspropagandist, wobei er jedoch die komplizierten Fragen der Machtpolitik und Diplomatie allzu sehr im Lichte jener Feindbilder sah, die Nationalsozialismus und Faschismus pflegten. 1940 erlebte der französische Patriot Rebatet die schnelle Niederwerfung Frankreichs durch die deutschen Panzerarmeen als eine ungeheure nationale Katastrophe. Nach kurzer Hinwendung zum Regime des Marschalls Pétain (Mitarbeit bei Radio Vichy) wandte er sich enttäuscht vom System Pétains ab, da die proklamierte „Nationale Revolution“ sich weitgehend als bloße Worthülse erwies. Im besetzten Paris war er einer der führenden Journalisten und konnte auch seinen Einfluß geltend machen, um ein qualitativ hochwertiges Kulturleben in der Metropole zu ermöglichen. Als Kollaborateur geriet Rebatet im Sommer 1944 in den Strudel der deutschen Niederlage. Er gehörte zu den Exil-Franzosen, die in und um Schloß Sigmaringen untergebracht wurden. Sein weiteres Schicksal ist schnell erzählt: Der Verhaftung am 8. Mai 1945 folgte am 23. November 1946 das Todesurteil. Am 9. April 1947 wurde Rebatet zu lebenslänglicher Zwangsarbeit begnadigt, fünf Jahre später, am 16. Juli 1952, entlassen. Am 24. August 1972 starb er in seinem Heimatort Moras. Neben einer Musikgeschichte aus dem Jahr 1969 sind Rebatets Memoiren (posthum 1976) und ein voluminöser Roman (1952) von bleibendem Wert. In „Les Décombres“ (1942) verband Rebatet seine Erlebnisse aus den Jahren 1938 bis 1940 mit einer politischen Polemik von großer Sprachgewalt (vergleichbar mit Léon Bloy). Trotz Papierknappheit erreichte das Buch eine Auflage von 100.000. Ergänzt um einen weiteren Band (der die Jahre 1941-1947 umfaßt), erschien das Buch 1976 neu unter dem bezeichnenden (vom Autor so gewünschten) Titel „Les Memoires d’un fasciste“. Der über tausend Seiten starke Roman „Les Deux Etendards“ (Die zwei Feldzeichen) kam 1952 auch in deutscher Übersetzung heraus: „Weder Gott noch Teufel“. Das Werk geht auf Tagebuchaufzeichnungen und frühe Entwürfe Rebatets aus dem Jahre 1924 zurück. Ende Juli 1941 nahm er die Arbeit am Manuskript auf. Er hatte das Glück, daß man ihm während der Haftjahre gestattete, den Roman im September 1951 zu vollenden. Was der Agnostiker bezwang, verkörpert der Jesuit Dieses umfangreiche Werk enthält Elemente des Bildungs- und Erziehungsromans und bietet ein überaus farbiges Panorama der Weltstadt Paris und der französischen Provinz in den 1920er Jahren. Der französische Titel spielt auf die bei Ignatius von Loyola erwähnten Feldzeichen Gottes und des Teufels an, zwischen denen der Christ sich entscheiden muß. Auch der Name des Protagonisten Michel Croz weist – wenn auch ironisch – auf die Entscheidungssituation hin: „Michel“ auf den Bezwinger Satans, den Erzengel Michael (Wer ist wie Gott) und „Croz“ (lat. Crux / Kreuz) auf das Siegeszeichen Christi. Zwei Studenten und eine Gymnasiastin erleben in diesem Roman das Ringen um religiös-weltanschauliche Klarheit und die Erschütterungen durch die Liebe – von einer spiritualisierten Liebe bis hin zur Dämonie der Sinne, einer erotisch-sexuellen Besessenheit. Am Ende bekennt Michel: „Weder Gott noch Teufel!“ Was der Agnostiker in sich bezwungen hat, verkörpert sein Alter ego, sein Freund Régis, der Jesuit wird. Freundin Anne-Marie endet als drogensüchtige Lebedame. Das religiös-weltanschauliche Vakuum, das sich bei Rebatet wie bei seinem Protagonisten Michel gebildet hatte, wurde ausgefüllt durch Inhalte einer politischen Religion des 20. Jahrhunderts, des Faschismus, aus dessen Verstrickungen und Schuldzusammenhängen sich der Autor nicht mehr befreien konnte.

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Marc Jongen, ESN Fraktion
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