Von Max Weber stammt bekanntlich die Formel, daß die Reichseinheit von 1871 ein „Jugendstreich“ gewesen sei, „den die Nation auf ihre alten Tage unternommen“ hätte. Sollte dieses Unternehmen einen Sinn haben, dann mußte seiner Meinung nach eine entschlossene Weltpolitik folgen.
Tatsächlich betrieb das deutsche Kaiserreich schließlich auch Weltpolitik, allerdings weniger entschlossen, als vielmehr durch die eigene Dynamik und die Konkurrenz der Nachbarn dazu getrieben. Max Weber entwickelte deshalb mit der Zeit eine gewisse Feindschaft gegenüber der deutschen Gesellschaft und vor allem dem Monarchen, denen es in seinen Augen an politischer Klarheit fehlte.
Betrachtet man unter diesem Aspekt die weniger als ein Jahr nach dem Mauerfall im Jahr 1990 erreichte, kleinstdeutsche Einheit, dann ergibt sich ein merkwürdiges Bild. Eigentlich handelt es sich beim Ablauf dieser kurzen Zeitspanne bis zur Einheit durchaus ebenfalls um einen verspäteten Jugendstreich. Es war allerdings kein Streich der Nation, sondern einer des Kanzlers auf seine damals schon deutlich angezählten Tage. Helmut Kohl sah die Chance (nicht, daß er in den Jahren davor besonders darauf hingearbeitet hätte, wie heute gern behautet wird, aber er sah sie) und konnte sie nutzen.
Unterstützt wurde er dabei von einer außenpolitisch günstigen Situation und innenpolitisch von einer überschaubaren Anzahl Mitarbeiter und politischer Partner. Es waren die Routiniers der BRD, die auf Einheit setzten, die Genschers und auf seiten der Opposition auch Altkanzler Willy Brandt. Keiner von ihnen hatte – Hand auf’s Herz – je eine mögliche Vereinigung politisch vorbereitet, aber da das Unfaßbare nun geschehen war, erinnerten sie sich an jugendliche Zeiten, als man mit der Reichsbahn noch bis Frankfurt/Oder durchfahren konnte. Der zögernden Nation verkauften die Oldies des Politikbetriebs künftige „blühende Landschaften“, daß „zusammenwächst, was zusammen gehört“ und die Beruhigungspille, dies würde alles schon nichts kosten.
Wiedererstarktes Nationalbewußtsein schnellstmöglich abgebogen
Ihnen gegenüber standen die Jüngeren und die ein wenig anders Sozialisierten. Eine deutsche Einheit unter einem Kanzler Lothar Späth, der Ende der achtziger Jahre als Ablösungskandidat längst bereit stand, läßt sich kaum vorstellen. Und auf der Gegenseite: Lafontaine? Fischer? Alles erklärte Gegner jeder deutschen Einheit und entschiedene Befürworter der weiteren Teilung aus „historischer Verantwortung“ und natürlich auch zur Schonung des eigenen Geldbeutels und des herrschenden politischen Milieus. Auf ihrer Seite stand außerdem praktisch alles, was im Westen als „intellektuell“ galt oder die Meinungsführerschaft in den Medien hatte.
Nun hatte diese Konstellation nach kurzer Zeit dramatische Folgen. Die DDR wurde vom Westen übernommen und abgewickelt. Damit lag die Meinungsführerschaft und bald auch die politische Leitung in Bonn (unvergessen die Windungen des dortigen Oberbürgermeisters, entgegen aller vorherigen Versprechen die Hauptstadtrolle zu behalten) und Berlin (unvergessen die damals schon fast allerletzte Zuckung des Wiedervereinigungsjubels, mit der 1991 eine knappe Mehrheit von 338 zu 320 für diese Hauptstadtlösung hergestellt werden konnte) in den Händen einer Elite, die mit diesem neuen Staat nichts anfangen konnte. Sie hatte ihn nie gewollt. Sie sah ihn nicht als Glücksfall oder Anfang, sondern als Problem, das es schleunigst abzuwickeln gelte.
Die Antworten auf dieses „Problem“ wurden rasch gegeben, wobei die bekannten Stichworte „Maastricht“ oder „Euro“ nur die Spitze des Eisbergs darstellten. Wer die deutsche Einheit tatsächlich gewollt und begrüßt hatte, konnte es schon zwei bis drei Jahre nach 1990 sehen: Mit erstaunlicher Schnelligkeit, Findigkeit und Liebe zum Detail wurde eine Melange angerichtet, die in der Summe auf nichts Geringeres als die Implosion des deutschen Nationalgedankens in der BRD zielte.
Hätte man die Einheit nicht lieber bleiben lassen sollen?
Wollte man keine Weltpolitik, so Max Weber, hätte man den Jugendstreich von 1871 auch bleiben lassen können. Wollte man 1990 die Einheit nicht, hätte man diesen Streich dann vielleicht nicht auch lieber bleiben lassen sollen?
Fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall kann man sich den Gedanken an anderslautende Versionen der Geschichte ja kaum noch verkneifen. Hätte es nicht eine West-BRD geben können, die weiter in Ruhe ihr Wirtschaftswunder-Weltoffenheits-Spießertum hätte pflegen können? War keine DDR denkbar, die ihrem roten Preußentum aus vorwiegend eigener Kraft eine freiheitlich-kapitalistische Komponente hinzugefügt hätte? Niemand hätte dann eine neue Staatsideologie für die BRD erfinden müssen. Man hätte die europäischen Nachbarstaaten nicht mit dem Wunsch belästigen müssen, in Form von „europäischer Integration“ am Projekt der deutschen Auflösung teilzuhaben.
Wahrscheinlich wäre künftig auch weiterhin kein Regierungschef auf die Idee gekommen, bei den Siegesfeiern der ehemaligen Kriegsgegner die Vernichtung des ersten Jugendstreichs, des Reiches, mitzubejubeln. Man müßte sich auch nicht damit abquälen, bei lieblos konzipierten Einheitsfeierlichkeiten englischsprachiges Popgedudel abzuspielen.
Man müßte ebenfalls nicht Zeuge einer verlogenen Debatte darüber werden, ob nicht schon Adenauer oder gar Brandt eigentlich „immer die Einheit gewollt“ hätten. (Natürlich wäre dann eine Reihe von willigen Historiker-Kollegen arbeitslos.) Und wäre die Nation in ihren dann dauerhaft drei Teilungsstaaten insgesamt nicht besser in der Lage gewesen, ihre liebenswerten Aspekte zu entfalten?
So macht man sich Gedanken über alte Streiche. Immerhin: An Klarheit fehlt es der heutigen Politik nicht.