Eine der vielen trügerischen Hoffnungen der Konservativen ist jene vom Aussterben der 68er-Generation. Würde erst die Generation der heute 60- bis 75-Jährigen mehrheitlich wegsterben beziehungsweise ihre einflußreichen Positionen im Universitäts-, Medien- und Politbetrieb verlassen, dann – so die Annahme – ließen sich die als Ausfluß des 68er-Ungeistes entstandenen Fehlentwicklungen in der Schul-, Sozial-, Einwanderungs- und Familienpolitik leichter wieder korrigieren. Auch würde sich die geschichtspolitisch motivierte einseitige NS-Vergangenheitsbewältigung zugunsten eines positiveren Blicks auf die deutsche Geschichte auflösen.
Dieser konservative Wunsch übersieht allerdings einiges, zum Beispiel die steigende Bedeutung der Rentner als Wählerreservoir. Eine Studie der Frankfurter Fachhochschule kam unlängst zu folgendem Ergebnis: „Wenn die Bevölkerung älter wird, profitieren davon nicht automatisch die konservativen Parteien.“ Somit würden vom demographischen Wandel in Zukunft zunehmend die Grünen profitieren. Eine Generation geht also nun in Rente beziehungsweise ist bereits in Rente, die aus privater Sicht alles richtig gemacht hat. Geboren oder aufgewachsen in der sicheren Wirtschaftswunderzeit, nach 1968 in einflußreiche Positionen der Gesellschaft marschiert und nun profitierend von einem Rentensystem, dessen Zahlungen für folgende Generationen nur noch spärlich fließen werden.
Nun mag die These zwar richtig sein, daß der Mensch mit zunehmendem Alter irgendwie konservativer wird. Das alte Dilemma ist allerdings, daß der Begriff „konservativ“ unterschiedlich interpretiert werden kann. Man kann darunter ein christlich-nationales Wertefundament verstehen, Naturverbundenheit oder materielle Besitzstandswahrung. Oder eben einen Strukturkonservatismus, der nicht mehr zum Umdenken bereit ist. Somit können in den Medien plötzlich auch aus Altkommunisten oder Grünen-Wählern „Konservative“ werden, obwohl sie dieses Prädikat wohl strikt von sich weisen würden.
Nachwachsende Generation geprägt von rot-grünem Überbau
Vor den 68ern dürfte die Generation 75 + verschwinden, die derzeit noch die soziale Basis für Konservative und Christdemokraten bildet. Diese Generation wurde noch während des Nationalsozialismus und der unmittelbaren Nachkriegszeit erzogen und mit den damaligen Werten sozialisiert. Ihnen folgt die 68er-Generation, die zu ihren hedonistischen Werten in Übereinstimmung mit der außenpolitischen Nachkriegslage und der Dominanz der amerikanischen Kultur gefunden hat. Die Rentner von morgen werden somit bald nicht mehr die von heute sein.
„Die Union wird Probleme bekommen, während die Grünen von der demographischen Alterung profitieren“, äußerte Sven Stadtmüller, Autor besagter Studie. Als Grund gab er an: „Die Bindung an eine politische Partei bildet sich schon in der frühen Sozialisation aus und bleibt danach im Zeitverlauf weitgehend konstant.“
Und selbst mit einem Verschwinden der 68er- und Post-68er-Generation wären deren Werte noch nicht verschwunden. Seit mehr als 40 Jahren wurde die nachwachsende Generation durch einen rot-grünen Überbau geprägt sowie durch Schulen und Medien fast täglich erzogen, bis hin zur politisch-korrekten Bannerwerbung für Fußballfans. Positiv sind demnach Weltoffenheit, Humanismus, Toleranz gegenüber sexuellen, religiösen und ethnischen Minderheiten, Klimaschutz, Entwicklungshilfe. Negativ sind „Nazis“, worunter wahlweise Patrioten beziehungsweise Nationalisten, „Rassisten“, Fleischesser, „Sexisten“ oder „homophobe“ Katholiken verstanden werden können. Man befindet sich also im Gleichklang mit den Zielen der „Neuen Weltordnung“.
„Fünfzig Jahre Umerziehung bedürfen fünfzig Jahre der Rückerziehung“
Zwar hat die unter Helmut Kohl aufgewachsene Generation der 80er-Jahrgänge weit mehr Pragmatismus und Gelassenheit als die Post-68er mitgenommen, an der Unangefochtenheit des Wertesystems hat das aber wenig geändert. Dies liegt auch daran, daß sich seit Jahrzehnten nichts an der sozialen Lage geändert hat. Wie eingefroren wirkt die Bundesrepublik, jener Hort der Stabilität. Manch Kritiker mag die Einwanderung oder Überfremdung als negative Veränderung anführen, doch dieser Prozeß erfolgte schleichend, also mit Gewöhnungseffekten. Und dessen Folgen werden von vielen Bürgern noch geschickt umgangen, verdrängt beziehungsweise durch jene rosafarbene Brille gesehen, die einem in Schule und Medien täglich angeboten wird.
Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Und da sich im Sein seit Jahrzehnten nichts mehr einschneidend verändert hat, wir scheinbar Zeitgenossen einer politischen und materiellen Erfolgsgeschichte sind, besteht für die meisten Bürger kein Grund, das Bewußtsein zu verändern. Günther Maschke äußerte mir gegenüber einmal sinngemäß: „Fünfzig Jahre Umerziehung verschwinden nicht einfach. Sie bedürfen fünfzig Jahre der Rückerziehung.“
Die (Post-)68er-Generation geht also langsam oder ist bereits längst abgelöst von jenen Nachfolgern, die ihre kompatiblen Werte verinnerlicht haben. Die alte konservative Basis der Vor-68er bricht hingegen zuvor weg. Und was wächst nach? Offenbar eine Jugend, deren Prägung bislang eindeutig dominiert. Andernfalls müßten die konservativen oder patriotischen Versammlungsstuben derzeit prall gefüllt mit jungen Männern und Mädchen sein, nicht aber mit ergrauten Herrschaften.
Warten auf Veränderung – Warten auf Godot?
Es wird sich also erst im Verlauf einer echten Krise zeigen, wie stark der gegenwärtige geistige Überbau wirklich noch ist und wie sehr nur noch von Mitläufertum und Herdentrieb geprägt. Das Sein prägt das Bewußtsein. Wenn man also nicht die Macht hat, das Bewußtsein der eigenen Zeitgenossen entscheidend zu erweitern, bleibt nur das Warten auf die Veränderung der Bedingungen durch äußere Faktoren. Da die gegenwärtige Gesellschaft materialistische Fundamente hat, wird sie durch wirtschaftliche Krisen erschüttert werden. Spätestens dann, wenn das gemütliche Rentnerdasein schwieriger wird, werden das auch die „grünen“ Pensionäre spüren und dann vielleicht, zu spät, über ihre Wahlentscheidungen nachdenken.