Mag sein, der Euro scheitert. Oder auch nicht. Mag sein, die D-Mark oder die Gulden-Mark oder der Nord-Euro und der Süd-Euro kommen. Oder auch nicht. Mag sein die EU, dieser abgeplattete Markt, der als große Völkerverständigung propagiert wird, zerbricht. Oder auch nicht. Das Wort Krise klingt wieder so, wie es früher in Frakturbuchstaben geschrieben aussah. Vielzahl der Diagnosen: Wir haben eine Immobilienkrise. Wir haben eine Finanzkrise. Wir haben eine Währungskrise. Wir haben eine Krise der überschuldeten Haushalte. Wir haben eine Strukturkrise. Wir haben eine Vertrauenskrise. Wir haben hier und da bereits Staatskrisen.
Egal, was alles noch analysiert und orakelt werden mag, so verbirgt sich hinter der Krise doch stark abstrahiert vor allem eines: Es steht eine Veränderung, eine Korrektur des Übermaßes an. Insofern ist das Wort „Blase“, der Schlüsselbegriff der Immobilienkrise, mit der alles begann, so stimmig: Etwas, das sich häßlich bläht, dann angestochen wird und faulig ausdünstend zusammenfällt. Denn es geht nicht allein um die drohende Inflation des Geldes; es ist überhaupt allzu vieles entwertet. Die Inflationierung des Verbrauchs und damit das Übermaß der konsumierten Waren bedingen die Inflationierung des Ressourcenverschleißes an Rohstoffen und Natur.
Ein ganzer Planet wird verwurstet
Der gesamte Planet wird in Reproduktionskreisläufe einbezogen, also verwurstet. Selbstverständlich lebt die Menschheit, jedenfalls der größte Teil jenseits der Armutsgrenze, weit über gesunden Verhältnissen und bedarf eines Warenstroms und eines Warenspektrums, wie es dergleichen noch nie gegeben hat. Das führt nicht nur in die Krise, sondern gleichfalls in die boomenden Dialyse-Zentren. Man nehme den „Supermarkt“ nicht als Selbstverständlichkeit, nur weil man in ihn hineingeboren wurde, sondern sehe ihn sich beim Hindurchgehen bewußt an.
Damit die hypertrophen Konsumgewohnheiten im Sinne des Grundkonsenses Hedonismus gehalten werden können, bedürfen Staaten und Kunden immer neuen Kredits. Und irgendwann sind die rein rechnerisch überzogen. Ökologisch und ethisch sind sie es ohnehin längst. Die billige Konsequenz: Es soll neu umgerechnet, umgeschuldet, umverteilt werden. Das ist ein quantitatives Verfahren.
Wir müssen wieder maßhalten lernen
Um diese Krise, die übrigens prinzipiell die gesamte Menschheitsgeschichte begleitet, wirklich in den Begriff zu bekommen, bedürfte es einer qualitativen Umsteuerung, die erstens kaum einer will und die sich zweitens gar nicht machen läßt, schon gar nicht in der Demokratie, diesem Politik gewordenen Prinzip Utilitarismus. Es bedürfte neuer Lebensgewohnheiten und neuen Maßes; aber wer das fordert, macht sich lächerlich und gilt als romantischer Illusionist. Oder als gefährlicher Ideologe.
Mein Vater machte sich beispielsweise lächerlich, wenn er, obgleich als Landlehrer zur unteren Mittelschicht gehörend, Kartoffeln nachsammelte und von Lastkraftwagen gefallene Kohlen aufhob. Er war nicht geizig, aber für ihn als armes Landarbeiterkind vom Jahrgang ’35 hatten diese Dinge einen hohen Wert. Er gehörte zu der Generation, die in einem Sack Kartoffeln, einem Pfund Rindfleisch und frischem Brot etwas höchst Wertvolles sahen. Iß mit Verstand, Junge. Das war so ein längst vergessener Satz. Solche Werte werden nicht mehr empfunden. Die landindustriell hergestellten Lebensmittel sind vergleichsweise spottbillig – mit den bekannten katastrophalen Auswirkungen auf die Ökologie der Flächen und die grausame Tierhaltung. Man blättere in alten statistischen Jahrbüchern und Lexika und sehe sich die Entwicklung des Pro-Kopf-Verbrauchs innerhalb der letzten Jahrzehnte an. Welch beeindruckende Inflation!
Krümelmonster-Logik: mehr Kekse, mehr Glück!
Der Sozialdemokrat Gerhard Schröder sah geradezu eine staatsbürgerliche Tugend darin, sich immer wieder möglichst schnell einen Neuwagen zu kaufen, anstatt den alten abzufahren. Um die Wirtschaft zu stärken! In dieser Logik liegt die gesamte Fatalität des Problems. Think big! King-Size! XXL! Krümelmonster-Logik: mehr Kekse, mehr Glück! Daß eine solche Lebensweise immer mal wieder „crasht“, ist nicht nur ein Wirtschafts- oder Währungsproblem. Es ist eines der Lebenshaltung, und davon wußten ebenso die Religionen wie die frühen Philosophien. Und setzten sich nie durch. Um prinzipiell „gegenzusteuern“, bedürfte es nicht nur der Finanzminister und der Banken-Krisenstäbe, sondern einer veränderten Politik als öffentlicher Angelegenheit, als „res publica“. Nur müßte Politik dann problematisieren, kritisieren, inspirieren.
All das vermeidet sie mit ihrer Verlautbarungsrhetorik, um den faulen Kompromiß des Status quo, also jenen der „Verbraucher“, zu halten. Schwieriger noch: Die „Verbraucher“ sind die Politik. Was sie, allesamt nach dem Diktum der Aufklärung ja „mündig“, nicht wollen, was ihrer Besitzstandwahrung, ihren Konsumgewohnheiten widerstrebt, das ist nicht vermittelbar. Demokratisch schon gar nicht. Also bleibt das „Weiter so!“ leider „alternativlos“, ganz im Sinne einer anthropologischen Konstante, die so schon immer durchregierte, nur eben nicht mit den technisch verheerenden Möglichkeiten der Gegenwart.