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Marc Jongen, ESN Fraktion

Die Spitze des Speers

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Cato, Palmer, Exklusiv

Wie in allen Stagnations- und Niedergangsperioden der „Zivilisation“ im Spenglerschen Sinne ist es Kennzeichen unserer Gegenwart, daß Quantifizierungen wichtiger sind als alles Qualifizierende. Selbstverständlich bildet die Zahl als Instrument des Rationalen Wirklichkeit ab, wird sie aber zum Selbstzweck erhoben, führt das zu konstruktivistischen Fehlschlüssen. Die Sammlung von „Credit-Points“ in Rahmen eines Bachelor-Studiengangs vermag beispielsweise über die Kompetenz des Sammlers nahezu nichts auszusagen. Ebensowenig der geradezu mystifizierte „Abi-Schnitt“, zumal die Zensierung sowohl vom System als auch als einzelner Akt der Bewertung ganz anders erfolgt als noch vor Jahren.

Konnte Günther Jauch mit der Abschlußnote 3,1 am altsprachlichen Gymnasium in Steglitz in den Siebzigern selbst in Berlin als Abiturient mit Perspektive gelten, würde ein solcher Durchschnitt heute ernsthaft auf mangelnde intellektuelle Belastbarkeit hindeuten – obwohl es sich doch um eine redlich durchschnittliche Note zu handeln scheint. Schien! Die Zahl avancierte in der Bewertung von Leistungen längst zum Mittel freundlicher und „diskriminierungsfreier“ Gleichmacherei. Alles, was heutzutage schlechter als mit der ungeliebten Drei bewertet wird, löst Erschütterungen aus, läßt Eltern aktiv werden und mindestens Fördermaßnahmen anschieben oder vorsorglich ein Rechtsanwaltsbüro konsultieren.

Ein anderes Beispiel: Ebenso wie mit einer Überzahl an Hyperkinetikern, die ihre pünktlichen Ritalin-Einnahmen nicht verpassen dürfen, sind Schulen gegenwärtig mit einer nie dagewesenen Ziffer an Hochbegabten gesegnet. Das mag an den zahlreichen Tests liegen, die neuerdings mit hohem Ernst bei jeder nach unten oder oben ausschlagenden Auffälligkeit betrieben werden, sicher auch daran, daß die Grundschulen eher spielerisch, frei und vermeintlich offen im Sinne der Inklusion von allem und jedem unterrichten und Forderungen beziehungsweise „Notendruck“ vermeiden, was dazu führt, daß Begabtere tatsächlich unterfordert und angeödet sind, so daß die einen sich in Affekten entladen, die anderen sich „wegträumen.

Mein Kind ist hochbegabt!

Die moderne IQ-Rechnerei nährt die illusionäre Erwartung, daß ein Kind mit hohen Werten ebenso „funktionieren“ müßte wie ein Computer mit enormer Festplatte und toller Rechengeschwindigkeit. Mein Kind ist hochbegabt! Dieser Satz läßt Eltern davon ausgehen, daß es nun „durchstarten“ müßte. Darüber, daß genau das allzu häufig nicht geschieht, ist von Psychologen eine Menge Zutreffendes und ebensoviel Unfug publiziert worden.

Hier nur dies: Es wird völlig versäumt, nicht zu beziffernde Wesensmerkmalen der Persönlichkeit heranzuziehen und danach zu fragen, wie die Schule auf diese eingeht und sie wirksam fördert. Daß Unterricht beispielsweise interessant sein muß, gilt in Lehrerzimmern entweder als Selbstverständlichkeit oder als sehr alter Hut. Daß Lehrer über das Geschick verfügten, einen kommunikativen Zustand im Unterricht herzustellen, der überhaupt erst Grundbedingung jedes pädagogischen Prozessen ist, davon geht alle Welt zwar wie selbstverständlich aus, aber es gelingt weniger denn je.

Neben der Rede von der „Intelligenz“, die – ebenso wie das Attribut „talentiert“ – gegenwärtig per se sowieso jeder zugeschrieben bekommt, werden Eigenschaften wie Wachheit, Interesse, Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer völlig vernachlässigt. Haltung gar, ein Vermögen das manche Schwäche mehr als alles andere kompensiert, dürfte mittlerweile als altpreußische Untugend gelten, ebenso wie ein charismatischer Lehrer mindestens so verdächtig ist wie der als geradezu reaktionär geschmähte, aber Inhalte sichernde Frontalunterricht, ein Begriff, der den sanften Linken so unangenehm nach Appellplatz klingt. Außerdem: Vor zwanzig Jahren noch wurden die Meriten mit einem guten Abschluß verdient, also ausgangs; jetzt erfolgt der Beifall mit dem Übertritt auf das Gymnasium, also eingangs. Allein daß jemand dort ist, fast überall nach elterlichem Entscheidungsrecht, garantiert in der Wahrnehmung seine Erstklassigkeit.

Das Ich ohne klaren Ort

Persönlich: Mir ist bewußt, daß ich als Honorarlehrer bei jedem „Auftritt“ indirekt mit Super-RTL, Dieter Bohlens gußeisernem Humor und allen Arten PC-Spielen zu konkurrieren habe und daß damit die Reizschwelle des Auditoriums vermutlich höher liegt als zu meiner Schulzeit, in der das Aufziehen einer Afrika-Karte oder das Projizieren eines Lichtbildes schon Ereignis war zu staunen. Ich bin darauf eingestellt. Ich ringe darum, daß doch wieder gestaunt wird, daß die Sinne angeregt werden, daß Empathie, Gerechtigkeitssinn, Positionierung und Urteilskraft herausgefordert sind. Keinesfalls möchte ich suggerieren, manipulieren, vereinnahmen, aber anregen, ja aufregen will ich schon, ohne daß ich je der Typ für weinerliche oder lächerliche Betroffenheitsinszenierungen gewesen wäre. Langeweile will ich vermeiden, schon weil ich sie selbst nicht ertrage. Tritt sie ein, kippe ich mein Konzept und fasse die Thematik anders. Ich möchte, daß Spannung anliegt, sonst fließt auch bei mir kein Strom für die Sendung.

Aber ich habe es von Jahr zu Jahr schwerer damit, denn ich treffe mehr und mehr auf ein Publikum, daß schon in jungen Jahren sehr zurückgelehnt ist und Schule kaum anders kennengelernt hat als ein Dienstleistungsunternehmen, das zu Abschlüssen verhilft, die man nominell immer noch braucht. Der Preis dafür ist gewohnterweise eine unerquickliche physische Anwesenheitspflicht, die über Jahre abgesessen sein will. Oft frage ich mich: Wo liegen überhaupt noch Leidenschaften? Es muß nicht mein Unterricht der Ort dafür sein, aber gibt es ihn für viele Heranwachsende wenigstens irgendwo anders? Immer so flache Amplituden, ein ph-neutrales Milieu, das ich irgendwie zu erfrischen versuche, weil ich das Laue selbst nicht aushalte.

Allzu frühe Scheinerwachsenheit, Coolness als Synonym für geistige Unbeweglichkeit, Selbstbestimmungsnöte in der immer früher einsetzender Akzeleration, dafür aber wenig Angebote, kaum je eine Idee von sich selbst, große Desorientiertheit, verbunden mit dem Unvermögen, sich Orte und Ziele zu suchen. Was möchtest Du nach dem Abitur machen? – Weiß nicht. Erst mal nach Australien oder Neuseeland, „Travel and Work“ oder so. Oder so. Leben als fakultativer Projektunterricht im bloß Ungefähren. Möglichst weit weg, möglichst zu den Antipoden, um nur dem eigenen Ich keinen klaren Ort zu geben. Ort war im Germanischen die Spitze des Speers. Ich stelle mir vor, wie er in den Boden gerammt wurde mit dem Gestus: Hier stehe ich. Und Luther antwortet in einem: … und kann nicht anders.

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