Die Stiftung Lesen wurde 1988 gegründet, sie möchte das Lesen von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften fördern. Jetzt hat sie bei einem Marktforschungsinstitut eine Studie in Auftrag gegeben. Da heißt es, daß Vorlesen Kinder klug und sportlich macht. Wir wollen uns jetzt gar nicht so sehr mit dem Gedanken quälen, daß vorlesende Eltern wahrscheinlich morgens auch früher aufstehen, damit sie ihren Kleinen ein Brot für die Schule schmieren können. Denn wenn wir uns mit diesem Gedanken aufhielten, dann müßten wir uns zwangsläufig fragen, wann die Stiftung Deutsches Pausenbrot feststellt, daß kohlenhydratreiche Snacks der direkte Weg zum Hochschulstudium sind.
Wir machen uns auch nicht darüber lustig, daß diese Studie unter anderem von einer großen Wochenzeitung, dem Deutschen Bibliotheksverband, „buecher.de“ und einem Presseauslieferer unterstützt wurden. Welches Ergebnis hätte die Studie sonst haben sollen? Etwa so etwas wie: Die Durchsetzungsfähigkeit von Leseratten ist deutlich niedriger als die von nicht lesenden Kindern? Oder: Der Lerneffekt beim Lesen einer Online-Nachricht entspricht dem des Lesens einer gedruckten? Beide Ergebnisse wären schlicht und einfach unmöglich gewesen – selbst wenn sie zuträfen. Doch, wie gesagt, wir machen uns nicht über diese Fingerübung im populärwissenschaftlichen Marketing nicht lustig.
Volkspädagogisches Tätscheln ach so dummer Eltern
Wir haben nämlich etwas viel besseres vor: wir ärgern uns. Nämlich über dieses volkspädagogische Tätscheln ach so dummer Eltern, die ihr Kind einem Leben im Siechtum mit mittlerem Bildungsabschluß und Lehre hingeben, wenn sie ihnen nicht aus diesen intelligent und witzig gemachten Büchern vorlesen, welche die Stiftung Lesen empfiehlt.
Ich habe keine Lust, mir von Marktforschungsinstituten erklären zu lassen, wie ein Kind zu erziehen ist. Und Vorlesen will ich schon mal gar nicht. Ich will sonntags bis um neun Uhr schlafen und dem Kind so lange Frühstücksfernsehen genehmigen. Zur Schule bekommt es Weißbrot, gewachste Äpfel und Kleingeld für eine Cola. An der Schlange im Supermarkt werde ich Schokoriegel kaufen, um meine Ruhe zu haben. Mit 14 werde ich ihm das Rauchen erlauben, weil ich das Verbot nicht mehr durchsetzen kann. Es wird nur die Fremdsprachen lernen, die in der Schule angeboten werden. Handy und Fernseher gibt’s, sobald es schreiben kann. Wenn das Kind nach drei Monaten keine Lust mehr auf das neue Musikinstrument hat, dann werde ich es auf Ebay verscheuern – also: das Musikinstrument (wir wollen ja nicht übertreiben).
„Aber dann wird’s vielleicht ein dicker Gesamtschüler!“ ruft das Marktforschungsinstitut. Und dann frage ich mich, was so schlimm daran sein soll, ein dicker Gesamtschüler zu sein. Woher kommt diese elende Arroganz? Diese Gewißheit, daß ein erfülltes Leben nur mit Abitur und Universitätsabschluß möglich sei? Wer das wirklich glaubt, blickt auch mit heimlicher Verachtung auf diese Kinder herab, deren Eltern sie Jacqueline, Kevin oder Justin genannt haben. Und eben da möchte ich konsequent sein: Instrument aufgeben ist in Ordnung, Justin ärgern nicht. Und wenn das Kind unbedingt will, dann lese ich ihm auch vor.