Kein Zweifel, das Erdbeben in Haiti ist eine der schlimmsten Katastrophen der vergangenen Jahre. Bei soviel geballtem Elend ist nachvollziehbar, daß die Berichterstattung einen Aspekt weitgehend vernachlässigt hat: Nach New Orleans ist Haiti das zweite Voodoo-Zentrum, das innerhalb weniger Jahre zusammenbrach. Und wenn beide wiederaufgebaut sind, werden sie nicht mehr dieselben Städte sein.
In den alten Garagen, in denen einst die Voodoo-Trommeln für vitalen Klangteppich sorgten, parken bald die Autos einer neuen Mittelschicht, die in die renovierte Metropole stürmt. In Haiti soll Voodoo seit der Katastrophe sogar verpönt sein. Bestrafungsphantasien, in Anbetracht wohlhabender Helfer aus christlicher Kultur noch gesteigert, spielen dabei womöglich eine Rolle. Wird der afro-amerikanische Ekstasenkult jetzt zur puren Diaspora-Kultur avancieren – zum zweiten Mal in seiner Geschichte?
Was fasziniert am haitianischen Voodoo, daß westliche Künstler – vom Surrealisten-Papst André Breton bis zu Schriftstellern wie Hubert Fichte oder Hans Christoph Buch – ihm in derart großer Zahl erlagen? Vorab muß erwähnt sein, daß der haitianische Voodoo wenig mit dem ursprünglichen Vodun aus Benin gemein hat. Afrikanische Sklaven importierten zwar Erinnerungen an den Vodun auf die amerikanischen Plantagen, gestalteten ihn dort aber völlig um, versahen ihn mit neuen Elementen, paßten ihn aktuellen Bedürfnissen an.
Symbolische Kapitulation
Der haitianische Voodoo ist ein Kult des Exils, des Widerstands, der Kraftspender in unerträglicher Lebenssituation. Seine Rituale füllen die Seele erneut mit Energie, als vitalistische Performance ermöglichte er eine Wiederaneignung von Macht, Autonomie und Selbstbestimmung im kleinen Rahmen. Letzteres interessierte die Künstler des 20. Jahrhunderts, die sich – in den meisten Fällen – als Widerständler gegen den gesellschaftlichen Mainstream verstanden.
Zumal der Voodoo die „Etablierten“ stets in Schrecken versetzt hat. So sehr, daß deren Unterhaltungsindustrie den Vital-Kult bald auf Zombies und Nadelpuppen reduzierte. Fast möchte man den Zusammenbruch beider Voodoo-Zentren im Zeitalter der Nivellierung als symbolische Kapitulation deuten, als Schlußstrich unter jede abweichende Lebensform. So wird er womöglich nur noch als „Zitat“ überdauern?
Ein deutschsprachiger Künstler, der magische Fluch- und Beschwörungsrituale in seine Arbeit integriert, ist natürlich Christoph Schlingensief. Auch wenn die Rituale bei ihm keinen direkten Voodoo-Bezug, sondern rein performativen Charakter aufweisen. So postierte sich Schlingensief einst vor einem Bürohaus Jürgen Möllemanns und führte dort eine groteske Fluch-Performance auf.
Grenze zum Tod
Der Politiker ärgerte sich, erlitt aber bald darauf sein tödliches Fallschirmunglück. Panisch rief Frau Schlingensief ihren Sohn an und fragte, ob er den Möllemann „runtergeholt“ habe … Nein, hat er natürlich nicht. Aber das Beispiel zeigt, wie rasch das Unbewußte zwischen Ritus und Zufall eine Kausalverbindung konstruiert, und das nicht nur bei alten Damen. Das macht Angst, verleiht aber auch Macht, erlaubt eine Umdeutung der eigenen Lebenswelt – ein Aspekt, der bereits dem Soziologen Jean Ziegler auffiel.
Das zweite Beispiel führt in den brasilianischen Regenwald, in die Stadt Manaus, wo Schlingensief im Jahr 2007 den „Fliegenden Holländer“ inszenierte. Nach der Premiere ging er samt Ensemble in eine nahe gelegene Klosterruine. Dort ließ er einen Schamanen die Geister von Richard Wagner und Klaus Kinski beschwören. Ein Ritual sollte also die Grenze zum Tod aufsprengen. Auf meine Frage, was sich dann gezeigt habe, erklärte Schlingensief: Ganz unerwartet habe Charles Baudelaire sich vorgedrängt und sei dort aufgetaucht. Und wohin ging er? „In mein Werk“, lautete die Antwort.
Tatsächlich atmet Schlingensiefs Werk seitdem eine Décadence und Melancholie, die ihm vorher fremd war – so in „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ und in „Mea Culpa“. Vielleicht läßt sich dieser ästhetische Wandel nicht nur aus der Krebs-Erfahrung erkären? Übersetzt man die mythische Sprache der Beschwörung in eine säkularisierte, dann läßt sich sagen: Die rituelle Erfahrung hat eine neue seelische Dimension in ihm freigelegt. Was will man mehr?