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Beipackzettel

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Der bürokratische Wohlfahrtsstaat nimmt den gern als „Verbraucher“ verunglimpften Bürger bevorzugt als hilfloses Mündel wahr, das es vor jeder nur erdenklichen Unbill zu beschützen gilt.

Aus diesem Geist heraus warnt man Raucher und Lottospieler mit dickem Zeigefinger vor den dräuenden Suchtgefahren (und läßt sie allerdings noch weiter quarzen und zocken, weil’s ja Milliarden in die Staatskassen spült). Daß man Gastwirten verbietet, in ihrem eigenen Haus selbst zu entscheiden, ob sie den Gästen das Rauchen gestatten oder nicht, und den Gästen wiederum nicht zutraut, ihr Lokal nach eigenen Prioritäten auszuwählen – geschenkt.

Beipackzettel sind kaum zufällig gerade schwer in Mode. Nicht die kleinbedruckten Papierchen in den Arzneimittelschachteln, die kein Mensch liest: Das Aufklären, Mahnen und Warnen ist eine Wachstumsbranche, die immer mehr Bereiche erfaßt.

Lebensmittel zum Beispiel: Die Industrie bliebe lieber bei unübersichtlich Kleingedrucktem (das keiner liest), „Verbraucherschützer“ (da ist das Unwort wieder, das den Menschen nur an dem mißt, was er konsumiert) hätten gern narrensichere „Ampel“-Kennzeichen für alle, die immer noch nicht wissen, daß Schokolade Fett enthält.

Allfürsorglicher Staat

Nun ist unbestritten, daß die Lebensmittelindustrie lügt und manipuliert, was das Zeug hält. Nicht zu leugnen ist aber auch, daß „gesunde“ und „natürliche“ Ernährung mit Industrieprodukten immer ein Gutteil Illusion bleiben muß.

An die naheliegende Konsequenz denkt kaum einer: Mehr Primärprodukte, nach Möglichkeit aus regionaler Erzeugung (Brot vom Bäcker, Fleisch vom Metzger, Obst und Gemüse vom Bauernmarkt), verzehren und selbst verarbeiten (vulgo: selbst kochen und backen), um größere Kontrolle über Inhaltsstoffe und Zutaten von Speisen zu gewinnen, und nicht immer alles haben müssen, was die Saison gerade nicht hergibt. Unterm Strich kann man damit sogar billiger leben als von industriellem Fertigfraß.

Selbst zu „Finanzprodukten“ (aus welchem produktiven Vorgang entstehen eigentlich Derivate und Zertifikate?) soll es nach dem Willen der Bundesregierung künftig „Beipackzettel“ geben, der „Erträge, Risiken und Kosten“ einer Geldanlage offenlegt.

Aber muß der allfürsorgliche Staat tatsächlich jeden, der sich von märchenhaften Renditeversprechen blenden und riskante Papiere aufschwätzen läßt, vor den Folgen seiner Gier bewahren? Kauf nichts, was du nicht verstehst – diese einfache Regel sollte jedes vernünftige Individuum auch ohne „Beipackzettel“ beachten können.

Kleine Kinder ohne kritisches Urteilsvermögen?

Ganz ohne Beipackzettel kann man immerhin kommunistisch-stalinistische Propagandafilme sehen. Sergej Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ gilt als Meilenstein der Filmgeschichte und läuft, wie so mancher Sowjetfilm aus jener Zeit, regelmäßig in Programmkinos und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, man kann ihn auch in Videotheken ausleihen, ohne auf Schritt und Tritt belehrt zu werden, daß Film und Regisseur eine Ideologie befördert haben, in deren Namen Dutzende Millionen Menschen ermordet wurden. Und wenn der ein oder andere ewiggestrige Hohlkopf beim Anschauen bolschewistische Revolutionsphantasien bekommt, hält eine gefestigte Demokratie das auch aus.

Wenn aber heute Oskar Roehlers „Jud Süss – Film ohne Gewissen“ in den Kinos anläuft, ein Trittbrettfahrversuch, der – glaubt man den Rezensionen und Vorschaufilmen – im erwartbaren Desaster steckenbleibt (Knallcharge Moritz Bleibtreu mimt den Goebbels als Knallcharge, nur ein Beispiel), dann kennt praktisch keiner jenen „Film ohne Gewissen“, von dem Roehlers recht frei fabulierende und arg verbogene Entstehungsgeschichte handelt.

Veit Harlans „Jud Süss“ unterliegt nämlich bis heute strikten Verbreitungsverboten und wird vielleicht alle Jahrzehnte mal in Großstadtkinos im kleinen Kreis halböffentlich gezeigt – mit „Beipackzetteln“ in Form von volkserzieherischen Einführungsvorträgen, versteht sich. Könnte ja sein, daß sonst nicht jeder den – raffiniert gemachten und daher sowohl historisch als cineastisch bedeutenden – Propagandafilm als Propagandafilm erkennt. Man hält uns offensichtlich für kleine Kinder ohne kritisches Urteilsvermögen.

Volkspädagogisches Gouvernantentum

Das ist um so grotesker, als das demokratische Web 2.0 sich wenig um volkspädagogisches Gouvernantentum schert. Es genügt, „jud süss download“ in die Suchmaschine einzugeben, um den Film von einem Server im Land der Freien ansehen oder herunterladen zu können, wofür die Obrigkeit im freiesten Staat – der jemals auf deutschem Boden undsoweiter – den Simpel Volk auch nach siebzig Jahren noch immer für zu unreif hält.

„Besteht die Gefahr, daß wir nach dem Ansehen des alten Jud-Süß-Films mit gezogenem Messer auf Juden losgehen, weil wir, das dumme Volk, so leicht zu verhetzen sind?“ fragt ein „FAZ“-Leser und fährt fort: „Ich empfinde Unbehagen bei dem Gedanken, in einem Lande zu leben, in dem irgendwelche anmaßenden Leute erwachsenen Menschen das Ansehen von Filmen verbieten dürfen; sie selbst dürfen sie natürlich sehen, sie sind ja so viel mehr sittlich gefestigt, als das gemeine Volk.“

Dem ist im Grunde nichts mehr hinzuzufügen.

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