In einem Mehrfamilienhaus in einem sozial durchmischten Viertel einer Großstadt möchte man oft gar nicht wissen, was die Nachbarn so treiben. Man hat gelernt, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Doch ob man will oder nicht, irgendetwas bekommt man immer mit.
Die Frau nebenan beispielsweise arbeitet nachts. Bis spät in den Nachmittag schläft sie. Oft nehme ich ihre Postpakete an. Irgendwann erzählte sie, daß sie mit 18 geheiratet hat. Mit 25 war sie bereits geschieden. Nun wünscht sich die 30jährige nichts lieber als ein Kind. Doch ihr laufe die Zeit weg, sagt sie, und durch ihren Beruf sei es schwer, jemanden kennenzulernen und eine Familie zu gründen. Sie müsse sich wohl damit abfinden, daß sie nie Mutter werde.
Ein paar Stockwerke höher wohnt ein Ehepaar mit einem zehnjährigen Jungen. Früher war er ein fröhliches und offenes Kind. Zwar schimpfte der Vater manchmal mit ihm im Treppenhaus etwas lauter, doch wer Kinder hat weiß, daß das Leben mit ihnen nicht immer einfach ist.
Seit einigen Wochen ist er jedoch völlig verändert: still, traurig und verängstigt. Bei seinem Vater dagegen riecht man regelmäßig die Fahne, wenn er guten Tag sagt. Seine neue Lebensgefährtin sieht man immer öfter die Schnapsflaschen zum Altglas bringen.
Ganz oben im Haus wohnt eine alleinerziehende Mutter mit ihrer etwa 13 Jahre alten Tochter. Als wir vor drei Jahren hierher gezogen sind, war sie noch ein Kind. Nun läuft sie rum wie eine Dirne: Leicht bekleidet, weiß blondiertes Haar und schlecht geschminkte schwarze Augen. Da das heute jedoch die meisten Mädchen in dem Alter so machen, habe ich mir erstmal keine Gedanken gemacht.
Doch gestern nachmittag bin ich an der billigsten Kneipe in unserem Kiez vorbeigelaufen. Durch die offene Tür sah ich das Mädchen – an einem Pils schlürfend und über die Witze eines erwachsenen Mannes lachend. Ich dachte, ich sag es der Mutter – doch die saß ebenfalls dort.
Nun, was geht mich das an? Ich bin nicht der Samaritertyp. Sollen die Leute selbst ihren Mist ausbaden, dachte ich mir. Doch aus dem Kopf gegangen sind mir die Geschichten nicht. Was ist also die Konsequenz? Oft denke ich, daß wir spätestens mit der Einschulung unseres Sohnes hier wegziehen müssen – aufs Land, oder in die Randbezirke. Er wird hier nur schlecht beeinflußt (nicht nur, weil hier zunehmend Kopftücher das Straßenbild dominieren).
Doch genau das ist das Problem: Wer kann, flüchtet aus der Stadt. Dabei sind es gerade die, die noch etwas bewirken könnten – also die Konservativen, die Rechten, die Christen –, die als erste die brennende Stadt hinter sich lassen. Sie wollen sich von der häßlichen Gesellschaft abkapseln – sich und ihren Kindern eine Art konservative Idylle schaffen.
Ich gebe zu, daß es verlockend ist, alles aus der sicheren Ferne anzuschauen und zu kritisieren. Doch damit sind die Probleme nicht gelöst, und damit wird Deutschland sicherlich nicht zu einem besseren Ort. Gerade als Rechter sollte man heutzutage das Helfen eben nicht dem Staat überlassen.