Vor einigen Wochen erklärte Papst Benedikt XVI. die Gebeine des Paulus im Sarkophag der Sankt Paul-Basilika für echt – gestützt auf eine Untersuchung, die ihr Alter auf das 1. bis 2. Jahrhundert nach Christus datierte. Freilich, das beweist gar nichts. Schließlich haben damals noch andere Menschen gelebt. Vielleicht sind es bloß die Überreste eines Zeitgenossen?
Bei den unzähligen Reliquienfälschungen der Vergangenheit würde das nicht verwundern. Aber – die Wahrscheinlichkeit einer Authentizität ist durch das Ergebnis der Analyse gestiegen. Damit besäße die katholische Kirche die sterblichen Überreste ihres frühesten Architekten. Dem Papst war die freudige Erregung bei der Verkündung anzumerken – wie Medienberichte feststellten.
Inzwischen hat eine Forscherin Zweifel an der Echtheit der Gebeine angemeldet, aber sonst hielten sich Begeisterung wie Ablehnung in Grenzen. Wie es auch um den katholischen Glauben bestellt sein mag, die Zeit der Reliquien scheint endgültig vorbei.
Wirklich? Im vergangenen Dezember trat die US-Schauspielerin Scarlett Johansson schwer erkältet in einer TV-Show auf.
Irgendwann ging’s nicht mehr, Miß Johansson unterbrach das Gespräch, griff zum Taschentuch und entledigte sich ihres Nasenschleims. So weit, so alltäglich. Nur – anschließend verlangte sie eine kleine Plastiktüte, steckte das gebrauchte Taschentuch hinein, ließ sie zuschweißen und bei ebay versteigern.
Der Reliquienkult ist nicht tot
Der Erlös, versprach sie, solle einem Wohltätigkeitsprojekt zugute kommen. Und der war nicht gering: Ganze 5.300 Dollar fuhr die legendäre Rotzfahne ein. Man merkt, der Reliquienkult ist nicht tot. Er hat sich nur verlagert.
Wer sich über das mangelnde ästhetische Niveau dieser Johansson-Reliquie empört, sollte wissen, daß dieser Kult sich nie um Geschmacksgrenzen geschert hat. Zur Hochzeit der christlichen Reliquien gab es nicht nur Knochen, da wurde beispielsweise mit einer Ampulle voller Milch der seligen Jungfrau, mit Nägeln gekreuzigter Märtyrer und – insgesamt 16 – Vorhäuten Christi gehandelt.
Nein, Reliquienpoker war nie ein Geschäft für Empfindsame. Jedoch, es gab ein Echtheitskriterium, das viel über die damalige Bedeutung einer Reliquie verrät. Chemische Nachweisverfahren existierten noch nicht. Deshalb war sie „echt”, wenn sie Wunder bewirkte. Wenn die Kraft des Heiligen sich in ihr zeigte. Oder: Wenn sie einen Placebo-Effekt herbeiführte.
Seltsam, daß ausgerechnet physische Überreste von Heiligen – die ja gerade den Körper geringschätzten – derartigen Kult erfuhren. Vielleicht weil – umgekehrt – deren Heiligkeit auch das Niedrige aufwerten konnte. Weil der damalige Mensch durch sie einen Vorwand erhielt, sich mit Tabuisiertem (Obszönem, Morbidem, Ekelhaftem) beschäftigen zu dürfen.
Es gibt keine Epoche ohne Riten
Schließlich stammte es vom Körper eines Heiligen. Somit wäre das makabere, erotische Element mancher Reliquie kein Zufall: Nur deshalb konnten sie befreiend und heilend wirken. Indem sie Verdrängtes rehabilitierte, zum Heiligtum erklärte – die Seele der Gläubigen heimlich vom Druck des Tabus befreite. Und – wenn das Häßlich-Obszöne sich bis ins Komische steigert, ist das – so der Hegelianer Karl Rosenkranz in seiner „Ästhetik des Häßlichen” (1847) – die perfekte Katharsis.
Im Zeitalter des Hygieneterrors, wo der Körper mit neuer Askese im Namen der Jugend und Schlankheit gequält wird, wo man ihn totalenthaart, keim- und faltenfrei will. Hier kommt eine Ikone, eine Heilige dieses Ideals – Scarlett Johansson – und rehabilitiert mit ihrem Taschentuch das verdrängte Häßliche im zeitgenössischen Körperkult.
Ohnehin genießt Scarlett Johansson in der zeitgenössischen Kultur metaphysischen Mehrwert. Selten ist jemand zur Muse so vieler unterschiedlicher Künstler avanciert. Für Altmeister wie Woody Allen, der keinen Film mehr ohne sie dreht. Für Jonathan Meese, der sie in seinen Bilderzyklus über Jakob Paul von Gundling zur Allegorie auf Preußen erklärt. Und für zahlreiche Musiker. Kürzlich erschien eine CD mit unterschiedlichen Kompositionen, die durch Miß Johansson inspiriert wurden.
Fazit: Entgegen zahlreicher Behauptungen gibt es keine „religionslose Zeit”, keine Epoche ohne Riten, Kulte und Reliquien. All das scheint fest im Psychohaushalt des Menschen verankert zu sein, zeigt sich aber stets mit anderen „Inhalten”, mit neuen Masken. Ganz gleich, ob die virtuelle Liebe der Romantiker heute in der Zuneigung eines Japaners zu einem Manga-Mädchen weiterlebt, oder der Reliquienkult sich in Richtung Starkult verlagert. Verschwinden wird nichts davon.