Der deutsche Pressejubel, den die Rede Angela Merkels vor dem US-Kongreß ausgelöst hat, ist mir unverständlich. Ich habe mich während der Übertragung für ihre Beflissenheit geniert. Natürlich muß eine Kanzlerin im Ausland nett sein zu den Gastgebern, erst recht, wenn es sich um das Parlament des mächtigsten Landes der Erde handelt.
Es wäre aber interessant, ihre Geschichte vom unterdrückten Aschenputtel, das sozusagen „ganz persönlich“ vom Weißen Ritter aus Übersee aus der kommunistischen Drachhöhle befreit wurde, mit den Wortbeiträgen abzugleichen, die sie als FDJ-Funktionärin und Austauschwissenschaftlerin in Moskau gehalten hat. Wahrscheinlich ist der Unterschied gering.
Merkels Rede entsprach jener blockübergreifenden Eindimensionalität, die Milan Kundera in seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ karikierte: Die Fotografin Sabina ist nach der Niederschlagung des Prager Frühlings in die USA emigriert, wo ein Senator ihr die Vorzüge des amerikanischen Way of life erläutert. Auf seinem Gesicht liegt dabei „der Ausdruck des Verständnisses für eine Frau, die aus einem kommunistischen Land kam, wo es nach der festen Überzeugung des Senators weder das Gras wächst noch die Kinder rennen. Sabina aber stellte sich gerade in diesem Moment vor, dieser Senator stünde auf einer Tribüne irgendeines Platzes in Prag. Auf seinem Gesicht lag nämlich genau dasselbe Lächeln, das kommunistische Staatsmänner von ihrer Tribüne herab auf die Bürger richteten, die im Umzug vorbeiziehen und ebenfalls lächeln.“
Anführerin an der Spitze des Marschblocks
Merkel erschien mir wie die eifernde Anführerin an der Spitze eines Marschblocks von Schuldmädchen, die ihr „kategorisches Einverständnis mit dem Sein“ (M. Kundera) bekunden.
Das gilt auch für die Politikerin. Sie nannte ihren Auftritt eine „Stunde des Dankes“ für den Beitrag der USA bei der Überwindung der deutschen und europäischen Teilung. „Ich weiß, wir Deutschen wissen, wie viel wir ihnen, unseren amerikanischen Freunden, verdanken. Niemals werden wir, niemals werde ich Ihnen ganz persönlich das vergessen.“
Bei diesen Sätzen hatte ich das Gekrähe Erich Honeckers im Ohr, „für immer und unwiderruflich“ sei die die „Ditsche ‚kratsche ‚plik mit der Sowjetunion brüderlich verbunden“. Er hat bitter bezahlen müssen für die Annahme, die russischen Staatsräson sei mit seinen eigenen Interessen auf alle Zeit identisch.
Feinheiten der Geschichte
Über die Aufhebung der Teilung Deutschlands und Europas läßt sich nur sinnvoll reden, wenn man zugleich die Geschichte ihrer Entstehung in den Blick nimmt. Sie wurde nicht nur von einer Seite herbeigeführt. Indem die Westmächte auf der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands bestanden, nahmen sie wissentlich in Kauf, daß Stalin sein Imperium bis an die Elbe ausdehnte.
Über die Nachkriegszeit schreibt der Yale-Historikers John Lewis Gaddis in seinem 2007 erschienen Buch „Der kalte Krieg“ unverblümt: „Stalin tappte in die Falle des Marshallplans, die darin bestand, ihn dazu zu bringen, die Mauer zu errichten, die Europa teilen sollte.“
Natürlich kann eine Kanzlerin so etwas unmöglich sagen. Aber sind sie und ihre Redenschreiber mit solchen Feinheiten der Geschichte wenigstens vertraut?