Die aufwallende Debatte mit ihren hysterischen Reaktionen um das vor Ostern veröffentlichte Gedicht des Schriftstellers Günter Grass entzündete sich nicht am mangelhaften künstlerischen Gehalt. Der Inhalt ist anstößig. Das Gedicht, das – je nach Sichtweise – einen Leitartikel oder Leserbrief verkleidet, beschäftigt sich mit der drohenden Kriegsgefahr im Nahen Osten. Grass warnt vor einem „Erstschlag“ Israels und kritisiert die erneute Lieferung eines deutschen U-Bootes, das in der Lage sei, Atomraketen in Reichweite des Irans zu transportieren.
Doch eigentlich geht es weniger um Israel und den Nahostkonflikt. Es geht um die deutsche Frage. Günter Grass hat sie 1990 vor dem Vollzug der deutschen Einheit so beantwortet: „Wer gegenwärtig über Deutschland nachdenkt und Antworten auf die deutsche Frage sucht, muß Auschwitz mitdenken. Der Ort des Schreckens schließt einen zukünftigen deutschen Einheitsstaat aus.“
Grass, der 1999 den Literaturnobelpreis erhielt, begrüßte wie kein anderer, daß Deutschland mit der Teilung aus der Geschichte ausgetreten sei, die immer die Gefahr berge, daß sich „Auschwitz wiederholt“. Die Deutschen, neutralisiert in ihren Teilstaaten, waren so (in der westdeutschen Hälfte äußerst komfortabel) unter alliierter Vormundschaft aller politischer Entscheidungen enthoben. Mit der Wiedervereinigung drohte die Souveränität, der „Rückruf in die Geschichte“ als politisches Subjekt.
Grass macht Bekanntschaft mit einer Waffe, die er selbst oft geführt hat
Es ist verblüffend, doch nicht unlogisch, daß ein Dichter, dessen Hoffnung es war, die deutsche Geschichte sei „wegen Auschwitz“ beendet und Deutschland als politisches Subjekt ausgeschaltet, die Auseinandersetzung sucht ausgerechnet mit dem Staat, dessen heutige Existenz und Bedeutung nicht ohne die Geschichte der Judenverfolgung des Dritten Reiches zu denken ist: dem jüdischen Staat Israel, der nicht beabsichtigt, die eigene Souveränität auf dem Altar des „Weltfriedens“ zu opfern.
Mit der Haltung zu Auschwitz, Israel und Antisemitismus werden innenpolitische Schlachten geschlagen, Lager in Gut und Böse geteilt. Günter Grass macht jetzt Bekanntschaft mit einer Waffe, die er selbst oft und gerne geführt hat. Es gibt eigenartige Fronten der Grass-Kritiker und -Verteidiger. Ein Staat, der die Berufung auf die Religion, das Abstammungsrecht seiner Staatsbürger und den unbedingten Willen zur nationalen Selbstverteidigung auf seine Fahnen heftet, ist für die politische Klasse in Deutschland ein Anachronismus.
Andere verstecken sich wiederum hinter Israel, wenn sie gegen die Islamisierung Europas oder für die imperialistischen geopolitischen Ansprüche der USA argumentieren wollen. Vielleicht hat Grass mit seinem verunglückten Gedicht einen Beitrag zum Austritt der Deutschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit geleistet.
JF 16/12