Sie haben versagt. Wer in der Krise untertaucht, hat die Bewährungsprobe nicht bestanden. Brauchen wir noch die großen christlichen Kirchen? Wenn ja, wofür, wenn sie ausgerechnet während einer Pandemie, die Millionen Bürger in Unsicherheit, Todes- und Existenzängste versetzt, diese akute Notlage nicht etwa als Aufbruchssignal verstehen, sondern in Angststarre verfallen?
Als „Avantgarde Gottes“ hatte der EKD-Vorsitzende Heinrich Bedford-Strohm die Evangelische Kirche zur Eröffnung der Synode im November etwas übermütig bezeichnet. Eine waghalsige These. Immerhin rang er sich auch den Satz ab, der die Krise der großen Kirchen wohl am besten zusammenfaßt: Die Kirche habe nicht nur politische Aufgaben. Ach!
Kirche sei noch mehr. Spiritualität. Frömmigkeit. Christliche Traditionen. Nach acht Monaten Pandemie bräuchte man neben dem richtigen Handeln auch stärkende Worte, so Bedford-Strohm. Woher sollen die Worte kommen, wenn es am Geiste fehlt?
Gehorsam kann man in Deutschland
Habt keine Angst, fürchtet euch nicht! Es ist die zentrale Weihnachtsbotschaft. Doch statt die frohe Kunde ins Land zu tragen, diskutieren abgehobene politische und kirchliche Eliten den Weihnachtsgottesdienstverzicht als anständige Bürgerpflicht. Die Verkündigung als Virus-Superspreader-Event.
Schon seit März 2020, als die erste staatliche Aufforderung kam, auf Gottesdienste und auch auf Ostern zu verzichten, warte ich auf den Sturm der Entrüstung. Es ist verstörend, mit welch bereitwilligem Einverständnis und vorauseilendem Gehorsam sich die Amtskirchen dem Staat widerstandslos gebeugt haben und damit auch der inhaltlichen Definition zustimmten: Ihr seid nicht systemrelevant und verzichtbar. Nun soll auch Weihnachten mit Ausgangssperren und Kontaktverboten reglementiert sein. Gehorsam kann man in Deutschland, darin sind wir Weltklasse.
Fürchtet euch nicht! Doch wieviel Vertrauen strahlt eine Kirche aus, die den Leib Christi, das Brot des Lebens, neuerdings als Infektionsrisiko behandelt und in sterile Tüten packt? Die das Weihwasser abschafft, das doch Segen bringen soll? Wäre ich der Teufel, ich würde mich totlachen.
Jesus und Maria hätten Weihnachten auch allein verbracht, läßt uns der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) exemplarisch als eine Stimme unter vielen im deutsch-käßmannisierten Diskurs wissen und fordert Gottesdienstverzicht, denn er brauche ihn für seinen Glauben nicht.
Die echte „Avantgarde Gottes“ ist nicht laut
Das mag so sein, aber wer definiert, was der spirituelle Mensch braucht? Ralph Brinkhaus und die Kanzlerin? Und wird das neuerdings als rationiertes Weihnachtspäckchen staatlich zugeteilt? Das Funktionärsdenken, das die Kirchgänger wie dumme Schafe behandelt, zeigt sich in diesen Tagen scharfkantig abgesetzt zu jenen, denen nicht Struktur, sondern Inhalt ein Anliegen ist.
Die echte „Avantgarde Gottes“ kommt ganz anders daher, sie ist nicht laut, schreibt keine Presseerklärungen, gibt keine Interviews und wird auch nicht aus Kirchensteuern bezahlt. Sie leistet Nachbarschaftshilfe, singt vor Altenheimen Weihnachtslieder, organisiert im Stundentakt Andachten für den 24. Dezember, damit kein Gedränge entsteht und niemand abgewiesen werden muß, ausgerechnet in jener Heiligen Nacht, die für den Heilsbringer mit Abweisung an allen Türen begann.
Die Avantgarde sind jene, die trotzdem handeln, auch und gerade jetzt. Jene, die das verstanden haben und auch leben, was die gutsituierte Elite doch selbst nicht müde wird zu betonen: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“
Natürlich bräuchten wir die Kirchen noch. Wann, wenn nicht jetzt? Um so trauriger, daß diese Moralinstanz, die sie selbst für Atheisten immer noch ist, ihren Führungsanspruch offenbar nicht mehr will. Ist man müde oder übersättigt? In der Krise zeigen sich verängstigte Kirchenfürsten, die um Himmels willen nichts falsch machen wollen. Soll es uns trösten, daß auch die ersten Zwölf in der Gefolgschaft Jesu nicht nur Helden waren, wenn es darauf ankam? Überlebt hat der große Dampfer Kirche bislang noch jede Art von Bordpersonal.
Die wahren Themen lägen auf der Straße
Fürchtet euch nicht! Kirche ist nicht die Debatte, ob man Gott jetzt mit Genderstern schreiben soll, ob er eine Frau ist oder ob sich Jesus wirklich als Mann „identifizierte“. Kirche ist nicht Frauenquote im Priestertum, nicht absurde Rassismusdebatten, ob Kinder als Sternsinger sich noch das Gesicht schwärzen dürfen und der Weise Balthasar noch als Krippenfigur taugte. Kirche ist nicht gekaufte Schlepperboote für das Mittelmeer, um sich politisch gutmenschelnd warm zu fühlen.
Die wahren Themen lägen auf der Straße für eine Kirche, die Lebenskompaß sein will. Die Kultur des Todes wächst weltweit mit neuen Liberalisierungen von Abtreibungsgesetzen, mit Euthanasie, mit Christenverfolgung und der selbstbewußten Stärke eines konfrontativen Islams.
Die Not wächst mit gehetzten und zunehmend wurzellosen Menschen als Opfern einer Globalisierung, die ihnen Familien- und Heimatverzicht abverlangt, im Gegenzug aber nur das Wettrennen um Selbstoptimierung und das Abdriften in politische Ersatzreligionen anzubieten hat. Klimarettung als Ablaßhandel, Gendertheologie als Sinnersatz, weil jene, die einst moralische Größen waren, ihr Pfund in nicht aufgeklärten Mißbrauchsskandalen verspielen, anstatt ihren Laden aufzuräumen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: die Verkündigung des „Fürchtet euch nicht!“
Wann, wenn nicht jetzt, bräuchte es eine frohe Botschaft? Der Hunger und Durst der Menschen ist ungebrochen. Wer wird ihn stillen? Die Antwort geben nicht mehr die großen Kirchenschiffe, sondern die einzelnen Christen vor Ort, die man nicht an großen Reden, sondern an kleinen Taten erkennt. Jeder könnte dieser eine sein, der neu beginnt und den Unterschied macht. In diesem Sinne, fürchten Sie sich nicht, jene zu sein!
JF 53/20 – 1/21