Herr Professor Henkel, Ihr neues Buch „Der Kampf um die Mitte“ trägt den Untertitel „Mein Bekenntnis zum Bürgertum“. Gibt es das noch, das Bürgertum
Henkel: Zumindest gibt es die bürgerlichen Tugenden, die ich aber in unserer Gesellschaft zunehmend vermisse.
Die „neue Bürgerlichkeit“ hat sich in den letzten Jahren zu einem Modethema der Feuilletons entwickelt.
Henkel: Trotz dieser Debatte haftet dem Begriff Bürgertum in Deutschland etwas Negatives an. Während in Frankreich der Citoyen positiv konnotiert ist, ebenso wie in den USA der Citizen, bekennt man sich bei uns höchstens zum „Staatsbürger“ – auf den Bürger aber blickt man herab.
Immerhin gibt es mit dem Magazin „Cicero“ seit 2004 sogar eine erfolgreiche Zeitschrift, die diese neue Bürgerlichkeit für sich in Anspruch zu nehmen sucht.
Henkel: Das qualitätsvolle Heft kommt aus dem Hause Ringier, in dem ich auch tätig bin. Ich weiß daher, was sich der Verleger gedacht hat und wie die Redaktion tickt: Da geht es nicht um Bürgertum, sondern um Intellektuelles. Das machen sie gut, und sie füllen eine Lücke – aber nicht die des fehlenden Bürgertums. Bei der erwähnten Debatte ging es im übrigen nicht um Bürgertum, im Grunde ging es um das Thema Elite.
In Ihrem Buch versäumen Sie es, Bürgertum zu definieren. Was verstehen Sie darunter?
Henkel: Ich habe das bewußt nicht getan, statt dessen habe ich beschrieben, wie das Bürgertum einst funktionierte und was es bewirkte. Das halte ich für aussagekräftiger als soziologische Definitionen.
< ---newpage---> „Aus Bürgern sollen wieder Untertanen werden“
Es scheint, als habe bei Ihnen Bürgertum mehr mit Freiheit als mit Kultur zu tun.
Henkel: Ein Bürger ist für mich jemand, der in der Überzeugung lebt, daß er für sein Schicksal selbst verantwortlich ist. Der aber auch Verantwortung für jene übernimmt, die – ob aus mangelnder Begabung oder anderen unverschuldeten Gründen – in Not geraten sind. Also der Gegensatz zu dem, was in unserer Gesellschaft gepredigt bzw. praktiziert wird.
Gepredigt wird die Zivilgesellschaft. Die meinen Sie also nicht?
Henkel: Grundsätzlich sehe ich da keinen Widerspruch. Im Gegenteil, das Bürgertum ist doch die Voraussetzung für diese.
Demzufolge wären die Grünen die politische Kraft, die Ihrem Verständnis von Bürgertum am nächsten kommt?
Henkel: Um Himmels willen! Die Grünen sind an vorderster Front, wenn es darum geht, Selbstverantwortung durch die Allmacht des Staates zu ersetzen.
Sie meinen, wie etwa bei der von ihnen gelobten Familienpolitik?
Henkel: Zum Beispiel. Es geht darum, die gesellschaftliche, soziale und politische Lage des Bürgers systematisch zu schwächen, mit dem Ziel, ihn hilfsbedürftig zu machen. Dann kommt der Staat, der zuvor alles zur Unterminierung der bürgerlichen Autarkie getan hat, wie der gute Hirte, um zu „helfen“. Darüber hinaus redet man den Menschen so lange ihre Schwächen und ihre Hilfsbedürftigkeit ein, bis sie selbst daran glauben. Dann preist man ihnen die Vorzüge des starken – vorsorgenden – Staates. So macht man aus Bürgern wieder Untertanen. Freie Menschen dagegen brauchen keine staatlichen Wohltaten, es genügt ihnen, wenn sie vernünftig regiert werden.
Sie kommen zu dem Schluß: „Die Deutschen lieben die Freiheit nicht mehr.“
Henkel: Ja, Deutschland befindet sich in einem abenteuerlichen Rutsch nach links.
Sie meinen: „Freiheit oder Sozialismus“?
Henkel: Ich meine, daß unser inneres Gefüge nicht mehr ausgewogen ist, daß die Gewichte sich verschoben haben. Man kann das mit dem 1957 im Nordatlantik gesunkenen Segler „Pamir“ vergleichen. Dem Schiff und seiner Besatzung wurde zum Verhängnis, daß die Ladung verrutscht war. Mit einer freiheitlichen Gesellschaft verhält es sich nicht anders: Rutschen die Gewichte – beispielsweise – nach links, droht sie zu kippen.
< ---newpage---> „Brauner und roter Holocaust – zweierlei Maß“
Die Medien konstatieren seit einiger Zeit diesen Linksrutsch. Dabei ist er keineswegs neu.
Henkel: Haben Sie in den sieben Jahre Rot-Grün aus Koalitionskreisen je die Forderung nach einem Mindestlohn gehört? Nein, das passiert jetzt! Oder nehmen Sie das jüngste Bekenntnis der SPD zum „demokratischen Sozialismus“. Dieses Wort hatten wir seit 1990 nicht mehr gehört. Ja, wir waren uns alle sicher, es auch nie wieder hören zu müssen. Jetzt ist es plötzlich wieder da. Und daß obendrein die öffentliche Empörung über diesen Skandal ausbleibt, zeigt zusätzlich, wie weit dieser Linksruck schon gediehen ist.
Entscheidend ist aber doch nicht der Linksruck der Linken, sondern der CDU.
Henkel: Das ist in der Tat der springende Punkt. Wer die Streitereien in der Großen Koalition für einen Ausdruck der Unvereinbarkeit von SPD und Union hält, der irrt. Man streitet sich nicht, weil man zu weit auseinander, sondern weil man zu nah beieinander ist. Denken Sie nur daran, daß der Urheber für die Verlängerung des Arbeitslosengeldes nicht Kurt Beck, sondern Jürgen Rüttgers heißt! Es gibt in jeder Demokratie eine klassische, „natürliche“ Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Gleichheit. Löst sich dieses Spannungsfeld aber zugunsten einer Seite auf, gerät die Demokratie aus dem Tritt. In Deutschland haben wir heute fast nur noch Vertreter der Gleichheitsidee, die bei uns allerdings meist im Gewande der sogenannten „sozialen Gerechtigkeit“ daherkommt.
Als weiteres Indiz für den Linksrutsch stellen Sie in Ihrem Buch eine gewisse gesellschaftliche Blindheit gegenüber Linksextremismus fest.
Henkel: Wie ist es sonst zu erklären, daß an unseren Schulen über die Untaten des Nationalsozialismus – zum Glück – aufgeklärt wird, die Massenmorde der Kommunisten aber kaum ein Unterrichtsthema sind. Oder daß wir in Deutschland die ideologischen Hauptwerke des Nationalsozialismus im Giftschrank verwahren, die Gesamtausgabe der Werke von Karl Marx – ein Erbe der DDR – aber staatlicherseits großzügig finanziell fördern. Oder daß die Leugnung oder Relativierung des braunen Holocaust hierzulande zu Recht schnurstracks ins Gefängnis führt, der betreffende Paragraph 130 „Volksverhetzung“ bei der Leugnung oder Relativierung des roten Holocaust dagegen grundsätzlich keine Anwendung findet. Während also die Würde der Opfer des Nationalsozialismus geschützt wird, wird die der Opfer des Kommunismus ignoriert.
Sie widmen sich auch der im Januar wieder anstehenden alljährlichen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin. Erstaunlich, denn sie gilt offenbar längst als etabliert und wird von den etablierten Medien nicht problematisiert.
Henkel: Schaut man sich die Unterstützerliste dieses wichtigsten neomarxistischen Symposions in Deutschland an, so findet man dort neben einem Bild von Lenin, der Linkspartei und Oskar Lafontaine immerhin auch Verdi, die IG Metall, die DGB-Jugend oder die Bonner Jusos. Dabei ruft diese Veranstaltung – natürlich scheinbar harmlos verklausuliert, Motto: „Das geht auch anders!“ – zu nichts weniger als zum Systemwechsel auf! 2007 ließ man sich dazu durch den RAF-Mörder Christian Klar die Reverenz erweisen: Die Zeit sei gekommen, so Klar, „die Niederlage der Pläne des Kapitals zu vollenden“. Auf gut deutsch: „Umsturz jetzt!“ Daß ein solches Grußwort, verfaßt von einem Killer, dort verlesen wird, legt übrigens den Verdacht nahe, daß man auch zu den RAF-Untaten ein eigenwilliges Verhältnis hat. Und obwohl die Botschaft und die Veranstaltung durch die Debatte um das Gnadengesuch an den Bundespräsidenten vor Monaten ausführliches Thema aller Medien waren, wurde die Fragwürdigkeit der Veranstaltung an sich nicht thematisiert.
Als Grund dafür geben Sie in Ihrem Buch eine Strategie der „Maskierung“ der Linken an.
Henkel: Es ist doch erstaunlich, wie empört die Linke etwa gegenüber den USA die Todesstrafe und die Mißachtung der Menschenrechte anklagt. Ein Anliegen, für das ich als Mitglied von Amnesty International viel Sympathie habe. Aber wie kommen die Linken damit zurecht, daß Todesstrafe und Menschenrechte von den von ihnen vielfach so verehrten Politikern, etwa Lenin oder Fidel Castro, noch viel drastischer angewandt bzw. mit Füßen getreten wurden und werden? Wer sich die Mühe macht, sich einzulesen, der findet die Antwort. Etwa in einem vom ehemaligen PDS-Ehrenvorsitzenden Hans Modrow herausgegebenen Buch, in dem ein Ex-ZK-Mitglied der SED heute schreiben darf, die „perverse“ Strategie des perfiden Kapitalismus sei es, „Freiheit, Demokratie und Menschenrechte anderen Völkern zu oktroyieren“. Und ich könnte weitere solche Beispiele nennen. Wer sich also genauer mit dem Thema beschäftigt, erkennt, daß sich die Linke zwar ständig mit hohen Idealen wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte schmückt, dies tatsächlich aber nur Maskerade ist, um sich beim bürgerlichen Wähler einzuschmeicheln.
Ich frage mich, ob sich SPD und CDU im klaren sind, daß die Linke mit Demokratie und Menschenrechten etwas ganz anderes meint als sie selbst? Ich fürchte nicht.
< ---newpage---> „Den Deutschen will man die Nation vermiesen“
Der Verharmlosung des Linksextremismus stehe eine Verzerrung bei der Wahrnehmung des Rechtsextremismus gegenüber, schreiben Sie.
Henkel: Hört ein Ausländer die Zahl der rechtsextremen Straftaten in Deutschland – 2006 waren das über 12.000 –, kann er leicht den Eindruck gewinnen, bei uns tobten wieder SA-Bataillone in den Straßen. Tatsächlich aber sind davon fast 9.000 reine sogenannte Propagandadelikte, also etwa das Zeigen verbotener Symbole, die keinen normalen Menschen, sondern nur einen deutschen Staatsanwalt in helle Aufregung versetzen. Ernste Straftaten, also Körperverletzungen, gab es 2006 „nur“ gut 700 – und damit weniger als von linksextremer Seite. Natürlich, jedes Opfer ist eines zuviel, aber ist es nicht unredlich, auf dieser Zahlenbasis den Rechtsextremismus als das vordringliche Problem darzustellen?
Warum geschieht das dann?
Henkel: Ich denke, daß das Teil des ständigen Schuldmantras ist, das in unseren Medien gesungen wird. Kein anderes Volk hat uns so sehr mit der Nazi-Vergangenheit zugesetzt wie wir selbst. Durch die staatliche Kultivierung der Holocaust-Erinnerung hat man den Deutschen die Nation vermiesen wollen, die angeblich dafür verantwortlich war.
Außer dem bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungenen Linksextremismus und der Instrumentalisierung des Rechtsextremismus sprechen Sie ein weiteres Tabuthema an, den, wie Sie es nennen, „Migrationsskandal“.
Henkel: Der ist ein doppelter und besteht darin, daß der Gesetzgeber es vielen der von uns dringend benötigten Hochqualifizierten unmöglich macht, nach Deutschland zu kommen, während wir gleichzeitig per Asylregelung, Familiennachzug und sozialen Leistungen den Zuzug nichtqualifizierter Unterschichtangehöriger fördert. Der Migrationsforscher Klaus Bade spricht wörtlich von einem „jahrzehntelang gut organisierten Unterschichtimport“ und dem Unsinn, sich nun zu „wundern, daß keine Nobelpreisträger daraus geworden sind“.
Sie berichten auch, wie Ihr Sohn selbst Opfer dieses „Unterschichtimports“ geworden ist.
Henkel: Er wurde vor zwei Jahren in Stuttgart vor einer Diskothek von zwei Türken brutal überfallen und zusammengeschlagen. Die Verletzung war so schwer, daß die Ärzte ihm die Nase erneut brechen mußten, um sie wiederherzustellen. Die Täter wurden nie gefaßt. Ich vermute inzwischen, daß dieser Fall gar nicht ungewöhnlich ist. Solange es uns nicht selbst betrifft, sehen wir aus Angst, mit der Political Correctness in Konflikt zu geraten, weg und lassen die wachsende Zahl der Opfer dieses Problems alleine.
< ---newpage---> „Die CDU hat die SPD in vielem schon links überholt“
Mit ihrem Anspruch, Vertreterin des Bürgertums in Deutschland zu sein, müßte die Union sich doch eigentlich offensiv all dieser Themen annehmen. Statt dessen ist sie aber, wie Sie sagen, Teil des Linksrutsches.
Henkel: Das ist sicherlich schmerzlich, aber man kann Frau Merkel derzeit kaum einen Vorwurf dafür machen, da ihr der Koalitionspartner in gewisser Weise ja die Hände bindet. Andererseits frage ich mich mittlerweile, ob es sich bei dieser Argumentation nicht doch nur um eine Ausrede handelt, denn die Bundeskanzlerin verteidigt die – teilweise völlig unsinnigen und fatalen – Kompromisse der Koalition mit einer verdächtigen Inbrunst. Sehr zu meiner Überraschung und Enttäuschung mußte ich feststellen, daß die Union die SPD in manchen Gebieten sogar schon links überholt hat!
Welche Konsequenz ziehen Sie daraus?
Henkel: Daß Deutschland offenbar eben keine gefestigte Demokratie ist. Aber so sehr mich diese Erkenntnis erschreckt, entmutigt sie mich nicht. Im Gegenteil, sie veranlaßt mich, meine Anstrengungen noch zu erhöhen und die Menschen aufzuklären. Deshalb finden Sie mich soviel in den Medien. Ich fühle mich verpflichtet, jede Gelegenheit zu nutzen, im Sinne von Freiheit und Demokratie die Stimme zu erheben.
Das ist Ihre persönliche Konsequenz. Welche politische Konsequenz ziehen Sie aber aus dem Versagen der Union?
Henkel: Ich habe noch nie Wahlkampfunterstützung für eine Partei gemacht. Angesichts der Politik der CDU erwäge ich aber ernstlich, künftig offen die FDP zu unterstützen. Außerdem engagiere ich mich bekanntlich für den Konvent für Deutschland, eine Initiative, die entschlossen versucht, die Grundlagen unserer politischen Entscheidungsprozesse zu reformieren. Ich nenne als Beispiel die dringend nötige Föderalismusreform. Der Konvent für Deutschland kann auch schon auf erhebliche Erfolge verweisen. Das Problem ist nur, daß der Weg, den die Bundesrepublik da noch zu gehen hat, sehr lang und steinig ist. Dennoch ist der Konvent einer der vielversprechendsten und wirksamsten Ansätze zur Gestaltung unserer Zukunft überhaupt!
Prof. Dr. Hans-Olaf Henkel
war von 1995 bis 2000 Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Geboren wurde Henkel 1940 in Hamburg. Heute berät der ehemalige IBM-Manager unter anderem die Bank of America, das größte Kreditinstitut der USA, und ist Vorstandsvorsitzender der Initiative „Konvent für Deutschland“. Er veröffentlichte bereits etliche Bücher, jüngst erschien „Der Kampf um die Mitte. Mein Bekenntnis zum Bürgertum“ (Droemer), das das Panorama der Erosion freiheit-licher Positionen in Deutschland erschreckend vor Augen führt.
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Konvent für Deutschland, Dorotheenstraße 35, 10117 Berlin, Telefon: 030 / 20 45 66 10, Im Internet: www.konvent-fuer-deutschland.de