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Wer ist Argentiniens Präsident?: Javier Milei: Durch Schweiß und Tränen

Wer ist Argentiniens Präsident?: Javier Milei: Durch Schweiß und Tränen

Wer ist Argentiniens Präsident?: Javier Milei: Durch Schweiß und Tränen

Javier Milei bejubelt 2021 einen Wahlsieg seiner Partei „La Libertad Avanza“: Wo immer er auftritt, begleitet ihn der Schlachtruf „Afuera!“ („Hinfort!“), mit dem Milei die Streichung überflüssiger Ministerien kommentiert Foto: picture alliance / AA | Walter Manuel Cortina
Javier Milei bejubelt 2021 einen Wahlsieg seiner Partei „La Libertad Avanza“: Wo immer er auftritt, begleitet ihn der Schlachtruf „Afuera!“ („Hinfort!“), mit dem Milei die Streichung überflüssiger Ministerien kommentiert Foto: picture alliance / AA | Walter Manuel Cortina
Javier Milei bejubelt 2021 einen Wahlsieg seiner Partei „La Libertad Avanza“: Wo immer er auftritt, begleitet ihn der Schlachtruf „Afuera!“ („Hinfort!“), mit dem Milei die Streichung überflüssiger Ministerien kommentiert Foto: picture alliance / AA | Walter Manuel Cortina
Wer ist Argentiniens Präsident?
 

Javier Milei: Durch Schweiß und Tränen

Professor, Punk, Präsident: Argentiniens Staatsoberhaupt ist vieles, nur nicht seriös. Javier Milei will den Anarchokapitalismus aufbauen, ein weltweit einmaliges Projekt. Sein Land feiert ihn, obwohl er den Menschen eine harte Zeit ankündigt. Alex Baur mit einem Portrait.
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Es gibt nur zwei Sorten von Argentiniern, Bilardisten und Menottisten. Entweder oder, man muß sich entscheiden, dazwischen ist nichts. César Luis Menotti führte die argentinische Nationalelf 1978 im eigenen Land zum Weltmeistertitel, Carlos Bilardo 1986 in Mexiko. Die beiden Trainer waren sich spinnefeind. Menotti setzte auf einen attraktiven Fußball; Bilardo interessierte nur das Resultat. Der extrovertierte und skandalumwitterte Diego Armando Maradona stand für das Prinzip Menotti, der introvertierte und unnahbare Lionel Messi für jenes von Bilardo.

Javier Milei, geboren 1970 in Palermo (einem Stadtteil von Buenos Aires), Sohn eines Busfahrers, Mathematiker und Wirtschaftsprofessor, ist „Bilardista“, zu hundert Prozent. Was andere von ihm halten, scheint ihn nicht zu kratzen – es gibt welche, die ihm ein Asperger-Syndrom zuschreiben.

Ein Außenseiter war er schon immer. Als halbprofessioneller Torhüter hatte er in frühen Jahren gelernt, den andern das Spiel zu verderben. Erlaubt ist, was nicht abgepfiffen wird. Er war anders gekleidet als seine Kameraden, durfte als einziger mit den Händen spielen, trainierte allein.

Vorbild Bolsonaro?

Es ist kein schönes Spiel, das der im letzten November überraschend und erst noch deutlich gewählte „presidente“ seinem Land verordnet hat. Der Libertäre Javier Milei hat dem gesamten Establishment den Krieg erklärt. Er beschimpft seine politischen Gegner als parasitäre „Kaste“, als korrupte Gangster und Marxisten. Die Verfemten sind alles andere als amüsiert.

Auf beiden Seiten wird mit Haken und Ösen, taktischen Fouls und Provokationen gekämpft. Doch seltsamerweise scheinen die Attacken dem Underdog, der sowohl in der Legislative wie auch in der Verwaltung und in der Justiz mehr Feinde als Freunde hat, wenig anzuhaben. Im Gegenteil, es ist, als suchte er den Konflikt nachgerade, um mit seinem gegen die Bürokraten gerichteten Schlachtruf „Afuera!“, zu Deutsch „Hinfort!“ noch einen draufzugeben.

Programmatisch ist Javier Milei am ehesten mit Jair Bolsonaro zu vergleichen, der im Nachbarland Brasilien zwischen 2019 und 2023 das Establishment aufzumischen versuchte. Bolsonaro orientierte sich ebenfalls an der libertären Österreichischen Schule, wenngleich nicht so explizit wie Milei. Er glaubt nicht, daß der Mensch das sich seit Urzeiten wandelnde Klima regulieren kann, setzte auf Wettbewerb und Wachstum, auf Eigenverantwortung und Freiheit statt auf Nanny-Staat und Umverteilung, auf Familie und Gott statt auf Multikulti und Genderismus, auf globalen Freihandel statt Uno-Globalismus. Dahinter steckt mehr als bloß Politik, nämlich ein Kulturkampf.

Für Milei gelten immer andere Regeln

In bezug auf Charakter und Stil könnten die beiden indes kaum unterschiedlicher sein. Bolsonaro wurde vom medialen Mainstream mit kraß verzerrten und oft perfiden Anwürfen regelrecht gelyncht. Tatsächlich war er ein Berufspolitiker, der sich an die Spielregeln hielt und den Ausgleich suchte. Den Liberalismus hatte er erst im fortgeschrittenen Alter entdeckt, bis dahin war er bestenfalls konservativ. Es gelang Bolsonaro auch nie, eine schlagkräftige eigene Partei aufzubauen.

Der politische Neuling Milei böte viel mehr Angriffsflächen. Sein ideologisches Fundament basiert zwar auf anerkannten Philosophen, von Adam Smith über Popper und Hayek bis Friedman. Seine oft sehr technischen und sperrigen Diskurse verraten, daß sein Wissen nicht bloß auf Sekundärliteratur fußt, daß er sich seit Jahren mit der Materie befaßt.

Doch zwischen seinen professoralen Vorträgen leistet sich Milei immer wieder erratische Ausfälle – etwa seine Schimpftiraden gegen den Papst oder die spanische Regierung, den Feminismus und die Abtreibung oder auch mal ein Plädoyer für den freien Handel mit menschlichen Organen –, die für jeden normalen Politiker das Ende der Karriere bedeutet hätten. Doch eben dieser Kontrast verleiht Javier Milei eine gewisse Immunität: Der Mann, der sein Herz auf der Zunge zu tragen scheint, wirkt authentisch.

Ein Teufelskreis von Überschuldung, Inflation und Stagnation

Statt den üblichen Versprechen – neue Jobs, Geschenke und Wunderwerke aller Art zum Nulltarif – bot Javier Milei den argentinischen Wählern nichts als Schweiß und Tränen. Das Land war krank und nur noch mit einer Art Chemotherapie zu retten. Der Teufelskreis von Überschuldung, Inflation und Stagnation, so seine Message, kann nur mit einem kalten Entzug überwunden werden, bei dem sich vorerst alles verschlechtern wird – ein Ende mit Schrecken eben, statt ein Schrecken ohne Ende.

Zum Erstaunen vieler waren es vor allem die Jungen und die unteren sozialen Schichten, die Milei zu einem komfortablen (56 Prozent Stimmenanteil) Wahlsieg verhalfen. Weltweit dürfte er der erste libertäre Präsident sein. Auch wenn seine Rezepte anderswo längst mit Erfolg umgesetzt wurden.

Radikale Privatisierungen und Deregulierungen haben schon in Chile und Peru in den 1990er Jahren zu erfreulichen Resultaten geführt. Die Armutsquoten sanken dramatisch und nachhaltig, innerhalb weniger Jahre entstand eine neue Mittelschicht. Die „Neoliberalen“ erreichten damit, wovon die Sozialisten immer geträumt hatten – indem sie das Gegenteil taten von dem, was diese predigten.

Blick nach Deutschland

Sie entlarvten damit auch das keynesianische Konjunkturmodell als Schneeballsystem, das wohl kurzfristig zu Wachstum, längerfristig aber zwangsweise ins Elend führt. Die chilenisch-peruanische Erfolgsgeschichte hatte lediglich einen Makel, allerdings einen gewaltigen: Sie wurden von Diktatoren verordnet. Dieses Kainsmal wurden sie nie mehr los, es machte sie angreifbar.

Doch man muß gar nicht so weit suchen. Die Entfesselung der Märkte nach den Rezepten von Popper, Hayek und Mises war auch das Fundament des „Wirtschaftswunders“, das Deutschland wenige Jahre nach seiner fast vollständigen Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg wie einen Phönix aus der Asche auferstehen ließ. Der Marshall-Plan, von dem gerade mal zehn Prozent auf die Deutschen abfielen (nach heutiger Kaufkraft zehn Milliarden Dollar), dürfte entgegen einem weitverbreiteten Irrglauben kaum eine Rolle gespielt haben.

Leider wurde auch Ludwig Erhard, der Architekt der deutschen Liberalisierung, nicht gewählt – sondern von den US-Besatzern bestimmt, über die Köpfe der Bevölkerung hinweg. Das mag mit ein Grund sein, warum viele Deutsche vergessen haben, wem sie ihren Wohlstand eigentlich zu verdanken haben.

Dabei zeigt gerade die Erfahrung mit der DDR, wo der Sozialismus bei konsequenter Anwendung hinführt. Trotzdem sind „Kapitalismus“ oder „Liberalismus“ bis weit in die Mitte der Gesellschaft zu Schimpfworten verkommen. Deutschland benimmt sich gerade so, als wäre sein Reichtum ewig und unerschöpflich.

Das verhängnisvolle Erbe des Perónismus

Es ist genau die Selbstüberschätzung, der auch Argentinien – vor hundert Jahren noch eine der reichsten Industrienationen der Welt mit einer liberalen Verfassung nach dem US-Vorbild – erlegen war. Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 verordneten General Juan Domingo Perón und seine bezaubernde „Evita“ dem Land eine sozialistische Radikalkur, von der es sich nie mehr erholen sollte. Das ist der Boden, der Javier Milei hervorbrachte.

Obwohl die Reformen Argentinien, wie absehbar, in eine Rezession gestürzt haben, blieben Mileis Umfragewerte erstaunlich stabil. Allerdings sind auch erstaunliche Erfolge zu verzeichnen. Innerhalb eines Monates gelang es der Regierung, ein gigantisches Budget- und Außenhandelsdefizit in Überschüsse zu verwandeln.

Milei – pragmatisch, praktisch, gut

Die akkumulierte jährliche Inflation beträgt sechs Monate nach dem Schock zwar immer noch gegen 50 Prozent, doch sie ist um Welten entfernt von der Ende 2023 prognostizierten Hyperinflation von 17.000 Prozent. Erstmals seit Jahren ist wieder ein leichter Anstieg der realen Löhne und Renten zu verzeichnen. Milei gelang es, wenigstens einen Teil seiner Reformpakete durchs Parlament zu bringen, wo er bekanntlich keine Mehrheiten hat.

Bei allem Aktivismus und all seinen verbalen Ausfällen hat sich Milei bislang in der Sache als Pragmatiker erwiesen. So läßt die versprochene Dollarisierung auf sich warten. Zuerst, so argumentiert die Regierung, müsse der Peso stabilisiert werden.

Der Volksaufstand bleibt aus

Würde der Devisenhandel sofort freigegeben, fiele die nationale Währung ins Bodenlose. Damit verschwände zwar ein Teil der Staatsschuld, und das wäre auch nichts Neues in der Geschichte Argentiniens. Doch ein solcher Schritt käme einer Enteignung gleich, die Milei unbedingt verhindern will. Er scheint begriffen zu haben, daß Investoren nur eines noch mehr fürchten als Überregulation und Steuern: Instabilität.

Zwar kam es da und dort zu Streiks und wüsten Straßenprotesten. Doch die gab es auch unter der sozialistischen Vorgängerregierung. Das sind keine spontanen Volksaufstände, sondern strategisch geplante Aktionen von Gewerkschaften und politischen Gruppierungen, die sich bislang an Staatsgeldern schadlos hielten. Diese korrupten Geldflüsse sind nun weitgehend versiegt. Die Pflastersteine und Molotow-Cocktails gegen die gewählte Regierung verraten in Wahrheit, daß die etablierte Linke schlicht keine Argumente mehr zu bieten hat. Ihre Rezepte sind gescheitert, und zwar überdeutlich.

Freiheit für die ganze Welt

Während Brasilien unter dem Sozialisten Lula im Rahmen der „Brics“ eine Allianz mit den Diktatoren in Moskau, Peking, Teheran, Havanna und Caracas anstrebt, ist Mileis Außenpolitik von einem geradezu glühenden Bekenntnis zu den Werten des demokratischen Westens getragen. Kaum im Amt setzte er in Davos mit einer vielbeachteten Rede eine Wegmarke für das freie Unternehmertum. Seine zweite Reise führte ihn nach Israel und in den Vatikan, wo er Frieden mit dem Papst schloß. Dem einen oder andern mag schwanen, daß man mit Bolsonaro einen Verbündeten in die Wüste geschickt hat. Und daß man denselben Fehler in Argentinien nicht wiederholen sollte.

Noch ist Argentinien nicht gerettet. Milei pokert hoch. Um die heruntergewirtschaftete Nation aus dem Sumpf zu ziehen, sind herkulische Kräfte vonnöten. Das Risiko des Scheiterns ist immanent. Doch wenn Milei den Turn­around schafft, wäre Argentinien ein Leuchtturm der Freiheit und der Prosperität mit globaler Ausstrahlung, der neue Maßstäbe setzen könnte.

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Alex Baur, Jahrgang 1961, Journalist, berichtet als Südamerika-Korrespondent der Weltwoche von Peru aus. Davor Stationen bei der Neuen Zürcher Zeitung, dem Stern und der Geo. Für seine Arbeit wurde Baur mit dem Alstom- und dem Zürcher Journalistenpreis geehrt.

JF28/24

Javier Milei bejubelt 2021 einen Wahlsieg seiner Partei „La Libertad Avanza“: Wo immer er auftritt, begleitet ihn der Schlachtruf „Afuera!“ („Hinfort!“), mit dem Milei die Streichung überflüssiger Ministerien kommentiert Foto: picture alliance / AA | Walter Manuel Cortina
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